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Will Tremper war 16 Jahre alt, als der 2. Weltkrieg zuende ging.

In seiner Biografie von 1993 beschreibt Will Tremper, wie er als überzeugter Hitlerjunge die Zeit ab 1939 erlebt hatte und was davon bei ihm unauslösch- lich im Kopf hängen geblieben war. Und er erzählt von seinen Erlebnissen in Berlin unter den Bomben. Lesenswert ist dazu auch "Als Berlin brannte" (Hans-Georg von Studnitz). Der Zusammenhang schließt sich über die Curt Riess'sche Biografie "BERLIN 1945-1953" und dessen beide dicken Film-Bücher, in der der Name Tremper aber nicht genannt wird. Will Tremper hingegen schreibt daher sehr genüsslich über "die anderen Seiten" bekannter Personen aus Politik und Film - natürlich auch über Curt Riess. Die einführende Seite steht hier.

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Polizeireporter werden ist nicht schwer

Vom Start weg - die erste richtige Nummer des »Tagesspiegel« erschien nach ein paar Proben am 2. Oktober 1945 - wurde Erik Reger der maßgebende Leitartikler Berlins.

Der erklärte Hitler-Gegner war 1930 für seinen Industrieroman »Die Union der festen Hand« mit dem Kleistpreis ausgezeichnet worden, ein anerkannter Schriftsteller also, als ihn das Dritte Reich in die »innere Emigration« trieb: Das war die Presse- und Werbeabteilung des ehemaligen Ullstein-Buchverlages unter dem Dach des Deutschen Verlages.

Mit welchem Impetus er nach zwölf »toten Jahren« im »Tagesspiegel« loslegte, ist leicht zu begreifen - aber um ein Haar hätte er sich wenige Wochen später furchtbar in die Nesseln gesetzt.

Ich kam morgens in die Lokalredaktion, und die Sekretärin sagte: »Dicke Luft! Sie sind alle bei Reger im Zimmer!« Was nichts Besonderes heißen mußte, denn jeder Tag brachte damals die ungeheuerlichsten Neuigkeiten; ein Blatt wie die BILD-Zeitung hätte sich dumm und dusselig drucken können. Selbst der hochseriöse »Tagesspiegel« verkaufte auf Anhieb eine halbe Million Exemplare täglich, war so erfolgreich, daß die Amerikaner ihre »Allgemeine Zeitung« schon im November 1945 wieder einstellten.
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Mein Anfang war schwer - gerade mal 17 Lenze - und kein Abitur

Ich tat mich anfangs ziemlich schwer mit meiner Arbeit. Aus Gründen, die nach Lektüre meiner Selbstdarstellung auf der Hand lagen, hatten die hohen Herren bestimmt, daß ich mein Volontariat als Reporter ableisten sollte.

Helmut Meyer-Dietrich, der behende kleine Lokalchef mit dem Nußknackergesicht und der ewigen Shagpfeife, trieb mich unentwegt an:

»Steh nicht rum! Lies keine fremden Zeitungen! Mach dich auf die Socken, stürz dich ins Leben! Geh auf die Straße und halte die Augen offen! Berichte, was du siehst und hörst! Als ich noch in Prag beim >Tempo< war, schrieb ich meine Artikel nur im Cafehaus!«

Er hatte gut reden. Andererseits mußte er täglich und buchstäblich aus dem Nichts heraus eine ganze große Zeitungsseite füllen, was sich heutige Lokalredakteure, die das Material pfundweise von allen möglichen Pressestellen zugeschickt bekommen, gar nicht mehr vorstellen können.
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In Berlin mußte man damals überall frieren

Ich trieb mich also frierend auf den Straßen herum und diktierte aus kalten Cafehäusern, die nichts als Heißgetränke - eine Art chemischer Limonade - anzubieten hatten, der Redaktionssekretärin am Telefon blöde oder triviale Meldungen wie »Stichflamme aus dem Müllkasten« oder »Bezirksstadträtin die Handtasche geklaut«.

Zur selben Zeit bekamen noch drei Volontäre eine Ausbildung beim »Tagesspiegel«: Rainer Höynkim Feuilleton, Bernd Conrad in der Politik und Carola Höpfner irgendwo. Sie konnten alle im Warmen arbeiten.
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Mein erster richtiger Artikel

Meinen ersten richtigen Artikel durfte ich über den Schwarzen Markt am Reichstag schreiben, auf dem russische Soldaten die Armbanduhren wieder verhökerten, die sie den Berlinern zuvor abgenommen hatten, und amerikanische GIs für eine Stange Zigaretten ein Meißner Porzellan-Service erwarben - wahrlich ein "lucky strike"!

Ich weiß noch, daß ich so um ein, zwei Uhr nachmittags in die Redaktion zurückkam, mich in ein leeres Zimmer verzog, die Tür hinter mir abschloß und den ersten Satz niederschrieb - falsch!

Ich spannte ein neues Blatt ein - Papier, wenn auch schwer holzhaltiges, hatten wir genug - und tippte einen anderen Anfang.

Wieder falsch! Wieder ein neues Blatt! So ackerte ich, mit Schweiß auf der Stirn und immer flacher werdendem Atem, bis fünf Uhr nachmittags auf dem ersten Satz herum. Dem ersten! Der riesige Papierkorb quoll längst über, ich verzweifelte immer mehr.

Bis es an der Tür rüttelte: »Was treibst du da eigentlich?« schrie Meyer-Dietrich. »Ich will keinen Roman, ich will hundertfünfundzwanzig Zeilen, mein Gott! Wenn du in zehn Minuten nicht fertig bist, kannst du dir deinen Schwarzmarkt an den Hut stecken!«
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Endlich gings in meinem Kopf weiter - mein Schlüsselerlebnis

Da hörte ich auf, immer nur den ersten Satz zu schreiben, und hackte den zweiten und dritten und den ganzen Rest der Geschichte in Blitzgeschwindigkeit herunter, überzeugt, daß meine gerade erst begonnene Karriere ein jähes Ende finden würde.

Aber M-D, wie wir ihn nur nannten, las sich meinen Erguß gleichmütig durch, machte hier ein Häkchen, strich da ein Wort und gab den Artikel ohne weiteren Kommentar in Satz. Ich bin damals nicht schlafen gegangen vor Aufregung, habe mich in der Setzerei und Druckerei im Erdgeschoß herumgetrieben und nachts um eins das erste Exemplar des neuen Tages in die Hand genommen, tief bewegt von meinem schreiberischen Genie.

In Blei gegossen, sah alles auf einmal toll aus. In dieser Nacht bin ich den ganzen kilometerlangen Weg vom Teltow-Kanal bis zur Wüsthoffstraße in Neu-Tempelhof, wo ich wohnte, in klirrender Kälte zu Fuß gegangen und habe meinen ersten Artikel unter jeder Straßenlaterne immer wieder gelesen.

Das war mein Schlüsselerlebnis und ist sicherlich der Grund dafür, daß ich bis heute nicht anders kann, als mich im allerletzten Augenblick erst an die Maschine zu setzen. Aber dann läuft's.
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Als bei mir der Groschen fiel

Als Reporter fiel bei mir der Groschen erst, als ich wieder einmal, völlig desperat, durch die Ruinen eilte und, wie M-D befohlen hatte, die Augen »weit offen« hielt, aber nichts Berichtenswertes sah.

Ich blickte am runden Innsbrucker Platz einem einsamen Auto hinterher, als plötzlich aus der Ruine gegenüber etwas aus dem ersten Stock auf den Bürgersteig plumpste - ein Mensch! Eine Neuigkeit, direkt vor meiner Nase! Ich sprintete wie Jesse Owens quer über den Platz, meine Neuigkeit sah mich, rappelte sich auf - und humpelte davon!

Ein armer Teufel von Holzsammler, wie sie zu Tausenden in den Ruinen herumkrochen. Ich holte ihn ein, schüttelte ihn und verlangte zu wissen, was er in der Ruine getrieben habe. Vielleicht etwas Interessantes?

Da kam ein Polizist hinzu: »Lassen Sie den Mann los!«, und zehn Minuten später saß ich auf einem Polizeirevier in Friedenau und durfte mir die Kladde mit den Tageseintragungen ansehen: Neuigkeiten über Neuigkeiten!
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So wurde ich Polizeireporter ........

....... der jüngste, den der »Tagesspiegel« - oder irgendeine Zeitung - je hatte. Die Berufung ergab sich aus der Notwendigkeit: M-D wußte sonst niemand. Es gab da einen netten älteren Herrn, der die Gerichtsberichterstattung machte und nebenbei noch eine Briefmarkenecke füllte.

Bohr hieß er. Und es gab einen eher mysteriösen Mann von vierzig Jahren, der von der Pressestelle der Reichsbahndirektion heimlich immer bei M-D anrief, um ihm zu verraten, welche Eisenbahnstrecken die Sowjets schon wieder abgebaut und nach Rußland verfrachtet hatten.

Ich lernte Rudolf Mai pudelnaß kennen: Er war beim Telefonieren überrascht worden und auf der Flucht vor der Bahnpolizei in den Landwehrkanal gesprungen. Der »Bahner« machte jetzt auch auf Reporter.

Aber er brachte immer nur »komische Geschichten« an, die M-D nicht drucken konnte.
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Wo waren die Heerscharen von Journalisten ......

Wo waren die Heerscharen von Journalisten, die es früher in Berlin gegeben hatte? »Alles belastet«, meinte M-D, »alles in der Partei gewesen oder doch in der Pressekammer. Die Amis sind, was Journalisten anbelangt, einfach tücksch. Die wollen jeden Fall zweimal geklärt haben.

Gestern erst war ein Top-Mann hier, hat seine Clearing vorgezeigt - und am Nachmittag hatten sie bei der Information Control schon wieder einen Artikel von ihm entdeckt, auf dem er sich über die Rassereinheit der deutschen Frau ausläßt!«
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Inzwischen vom Polizeireporter zum Geheimagent

Wie das Leben so spielt: Kaum war ich der offizielle Polizeireporter des »Tagesspiegel« geworden, da wurde ich auch noch »Geheimagent« für die französische Besatzungsmacht. Was mit der »dicken Luft« zu tun hatte, die eines Morgens bei Erik Reger herrschte. M-D kam und sagte: »Reger sitzt in der Bredouille, vielleicht kannst du ihm heraushelfen!«
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Schade, daß er sich nie fotografieren ließ...

Der Lizenzträger des »Tagesspiegel« hatte am Tag zuvor einen Leitartikel über das unlautere Verhältnis der Wissenschaft zur Macht im Dritten Reich verfaßt und darin behauptet, daß Professor Wolfgang Schadewaldt, der bedeutende Goetheforscher, so etwas wie ein IM gewesen sei, ein »V-Mann«, hieß das damals, der Geheimen Staatspolizei.

Und an diesem Vormittag bereits war Professor Schadewaldt in der Redaktion erschienen, hatte mit dem Spazierstock auf den Schreibtisch Regers geschlagen und ihm einen Verleumdungsprozeß angedroht, wenn er den Vorwurf nicht in der nächsten Ausgabe mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns zurücknähme.
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Meinem Chef Erik Reger die Fakten liefern ....

Nun fragte Reger mich, ob ich an die Mitarbeiterkartei der Gestapo herankommen könnte, die sich angeblich im Besitz der französischen Militärregierung befand.

Ich fuhr zum Quartier Napoleon hinaus, in die ehemalige Kaserne
des Flakregiments Hermann Göring in Tegel, und antichambrierte mich zu einem Oberstleutnant Felix Bernard durch, der das »Deuxieme Bureau« des französischen Geheimdienstes in Berlin leitete.

Das war ein etwas bleicher, wenn nicht gelblich aussehender, aber höchst sympathischer Elsässer von noch nicht vierzig Jahren, mit dicken schwarzen Augenbrauen, gelben Zähnen und einem charmanten Dauerlächeln.

Er hörte sich mein Problem an, murmelte den Namen »Schadewaldt« ins Telefon und stellte mir eine Stunde lang Fragen über die Zustände bei der Polizei. Die Franzosen waren etwas später als die Engländer und Amerikaner in Berlin eingetroffen und hatten in vielerlei Hinsicht das Nachsehen in ihren zuerst von den Briten besetzten Bezirken Reinikkendorf und Wedding.

Über den Sowjetsektor wußten sie so gut wie gar nichts, dort aber befanden sich das Polizeipräsidium und die Stadtverwaltung. Ich erzählte das Blaue vom Himmel herunter und hatte das Gefühl, auf dankbarem Boden zu landen.

Dann klingelte das Telefon wieder, der Oberstleutnant horchte, nickte und bestellte schöne Grüße an »Monsieur Reger«, er brauche seine Behauptung über Schadewaldt nicht zurückzunehmen.
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Nach wie vor, Reger brauchte die Fakten schriftlich

Als ich Erik Reger berichtete, sah der mich lange zweifelnd an und meinte, er hätte gern einen schriftlichen Beweis gehabt, entschloß sich dann aber - »Ihr Wort in Gottes Gehörgang!« -, den Goetheforscher abblitzen zu lassen. Wir haben, solange ich beim »Tagesspiegel« war, nie wieder etwas von Professor Schadewaldt gehört.

Doch ich bin dem Mann und seinem Bluffbesuch bei Reger dankbar gewesen, als ich kurz vor Weihnachten 1945 einen Brief der Chefredaktion erhielt: »In Anbetracht Ihrer bisherigen Leistungen wollen wir Ihren Volontärvertrag zum 1. Januar 1946 durch einen Reportervertrag ersetzen« - und eine Gratifikation von 500 Mark gab es außerdem. »Frohe Weihnachten!« Unterschrieben hatten Erik Reger und Helmut Meyer-Dietrich.

Der Lohn meiner Informationen - es gab zu essen

Mit Felix Bernard wurde ich im Laufe des Jahres 1946 richtig freund, berichtete ihm laufend über interne Vorgänge in der Berliner Polizei und wurde dafür mit Käse und Weißbrot, Halbschuhen und Armbanduhren, Hemden und Hosen, ja ganzen Flanellanzügen belohnt.

Ich fühlte mich mit meinen 17 Jahren wie ein richtiger Geheimagent, obwohl Felix nie etwas von mir verlangte, was nicht in meine ganz normale Reportertätigkeit fiel. Als später die Amerikaner neugierig wurden und ebenfalls Auskünfte über die Polizei haben wollten, zahlte Felix mir sogar zweitausend Reichsmark monatlich nur dafür, daß ich ihn über ihre Wünsche auf dem laufenden hielt, für nichts weiter.
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Silvester 1945 - Zum ersten Male bei einer Orgie dabei ....

In der Sylvesternacht 1945/46 war ich privat von ihm eingeladen und erlebte zum erstenmal eine französische Orgie - mit deutschen Frauen. Als die letzten Glockenschläge verhallt waren, trat Felix Bernard pudelnackt auf den Balkon seiner Villa, schlug sich wie King Kong an die Brust und schrie champagnertrunken in die Nacht: »Wenn ich Deutscher wäre, wäre ich bestimmt SS-Offizier geworden!«

Zwei Jahre später hat ihn Paris nach Indochina geschickt, und ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. Schade, daß er sich nie fotografieren ließ.
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Und im Berliner Winter von 1945 wurde immer heftiger gefroren

Es gab Menschen im Berlin des Winters 1945/46, die brachten sich wegen eines Paars Schuhe gegenseitig um, und ich konnte das verstehen. Bevor der Textilsegen des französischen Geheimdienstes über mich kam, ging es mir in dieser Beziehung selbst ausgesprochen schlecht.

Ich lief, bei manchmal 20 Grad unter Null, in schwarzen Turnschuhen aus Kunstleder durch den Matsch, die ich an einem heißen Tag auf dem schwarzen Markt in München erstanden hatte, und trug noch immer die olivfarbene amerikanische Military-Hose aus dem Amtsgericht in Naumburg/Saale.

Darüber zwei Pullover gleichzeitig, die zwei »für Führer, Volk und Vaterland« gefallenen Ehemännern gehört hatten. Und ich besaß einen schwarzen Mantel, der aussah wie aus Leder, aber aus Wachstuch bestand und von einer geschickten Freundin aus einer Tischdecke genäht worden war, die ich auf der Fahrt nach Berlin im Bahnhofsrestaurant in Stendal geklaut hatte.

Hede Zentner schenkte mir im Frühling 1946 eine todschicke, aber hauchdünne beige Kammgarnjacke ihres jüngeren Bruders, der im Hochsommer 1945 an einer Angina gestorben war.

Doch eine entfernte Tante, die Schwester der Frau meines Onkels Hermann, bei der ich in Neu-Tempelhof möbliert überwinterte, hielt den vollen Kleiderschrank ihres vermißten Mannes eisern verschlossen; er war beim Endkampf um Berlin nur mal kurz zum Flughafen hinübergelaufen und nicht zurückgekommen - vielleicht saß er in Sibirien und kehrte eines Tages wieder?

Meine Mutter schickte mir zu Weihnachten selbstgestrickte Wollstrümpfe in Kindergröße, die nicht einmal dem Fünfzehnjährigen noch gepaßt hätten, den sie in Erinnerung hatte.

Die Männer in der »Tagesspiegel«-Redaktion, die vor dem Krieg schon erwachsen gewesen waren, hatten zwar seit sechs Jahren keine anständige Kleidung mehr kaufen können, sahen aber immer noch ordentlich angezogen aus, falls sie nicht in den letzten Bombennächten noch alles verloren hatten.
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Mitkommen und Ausziehen! - kommandierte Helmut Meyer-Dietrich

Darum schlich Helmut Meyer-Dietrich eines Tages, als ich zu einer Pressekonferenz beim sowjetischen Stadtkommandanten gehen sollte, angewidert um mich herum, betrachtete mich von oben bis unten und knurrte durch seine Shagpfeife: »Wie siehst du eigentlich aus? Hast du keinen richtigen Anzug? Schläfst du in einer Mülltonne?«

Er selber hatte von seinem Vater in Dresden gerade ein sommerliches Prachtstück, auf Taille geschneidert, geschickt bekommen, dessen grüner Pfeffer-und-Salz-Glanz die Frauen in der Redaktion zu Entzückensschreien hinriß.

Minutenlang marschierte M-D in diesem eleganten Outfit hinter seinem Schreibtisch auf und ab, nuckelte ärgerlich an seiner kalten Pfeife und seufzte schließlich:

»So kannst du den >Tagesspiegel< doch nicht vertreten! - Mitkommen!« Und marschierte, stramm wie Mickey Rooney, vor mir her zur Herrentoilette, riß die Tür auf und kommandierte: »Ausziehen!«

Mir blieb vor Begeisterung das Herz stehen, während wir uns auszogen und ich in seinen Traum von grünem Sommeranzug schlüpfen durfte, indessen M-D angeekelt meine Klamotten betrachtete und es vorzog, in seinem Vorkriegswintermantel, mit herausguckenden langen Unterhosen, hinter seinem Schreibtisch meine Rückkehr von der Pressekonferenz im Sowjetsektor abzuwarten.

Eine Stunde als Filmstar!

»Aber du vertrödelst keine Minute!« schrie er mir nach. »Mach mich nicht zum Hampelmann!« Genau das tat ich freilich, zog schon auf der Wendeltreppe des Ullsteinhauses meinen Wachstuchmantel aus, legte ihn sorgfältig über den Arm und spazierte, wie ein Stenz im Frühling, bei Minustemperatur in M-Ds Galagarderobe zur Straßenbahn, die auf der anderen Seite der zerstörzen Kanalbrücke wartete.

Oh, wie ich die Blicke der Fahrgäste genoß! Die mußten mich für einen Amerikaner halten oder für einen vom Film! Am S-Bahnhof Tempelhof ging's dann in die U-Bahn zur Friedrichstraße und von dort wieder in die S-Bahn über Ostkreuz nach Karlshorst. Eine Stunde als Filmstar!

Mein Ex-Chef Spudich lachte nicht mehr .....

Bei der Pressekonferenz zog ich die Aufmerksamkeit der gesamten Berliner Presse vom sowjetischen Stadtkommandanten ab und auf mein elegantes Äußeres (»Na, die vom Tagesspiegel sind amerikanisch lizenziert, die haben's ja!«).

Anschließend stattete ich Generalsekretär Hanns Spudich im "Neuen Stadthaus" einen Besuch ab, obwohl der mich regelrecht verabscheute, seit ich nicht zur »Täglichen Rundschau« gegangen war.

Mein Auftritt beeindruckte ihn jedoch so, daß er mir zum Abschied wie zufällig etwas in die Hand drückte, das sich als Entwurf einer Berliner Verfassung, ausgearbeitet von Arthur Pieck, herausstellte. Daß das der Sohn des KPD-Vorsitzenden Wilhelm Pieck war, wußte ich inzwischen. Spudich lachte übrigens nicht mehr.

Wenn's regnet, sprießen grüne Blätter

Ich vertrödelte weitere Stunden mit dem Besuch von Freundinnen, die sich von meinem Anblick betören ließen, wie von entfernten Bekannten, die mich zum erstenmal richtig wahrzunehmen schienen.

Ich war einfach hemmungslos und bin auf dem Nachhauseweg, am späteren Nachmittag, dann auch noch in ein Schneetreiben geraten. Als ich endlich wieder in der Redaktion auftauchte - den Wachstuchmantel schön über dem Arm -, bekam M-D einen regelrechten Schreikrampf und anschließend so etwas wie einen Weinkrampf, als er auf der Toilette wieder in seinen grünen Pfeffer-und-Salz-Traum steigen wollte und feststellen mußte, daß er jede Fasson verloren hatte.

Überall an sich herumzupfend, schluchzte er: »Hab' ich dir nicht gesagt, daß dieses sächsische Textil hauptsächlich aus Holzfasern besteht? Wenn es darauf regnet, sprießen grüne Blätter!«

Und er hielt mir etwas Winziges vor die Brille, das angeblich ein grünes Blatt war. Nicht immer gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen »Enkeln und Großvätern« damals »außerordentlich harmonisch«, wie mal ein Kollege aus der belasteten Vätergeneration schrieb.
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Wenige Stunden später - als Erik Reger mich rufen ließ

Ich ließ mit gesenktem Kopf alles über mich ergehen, auch den Schlag auf den Hinterkopf, den M-D mir versetzte. Ich dachte nur immer: Auch wenn er mich hinausschmeißt, die Erinnerung an diesen Tag kann mir keiner mehr nehmen!

Diese Erinnerung erhielt wenige Stunden später aber erst ihr eigentliches Gewicht, als Erik Reger mich rufen ließ. Bei ihm waren M-D, dem ich die Papiere von Spudich, ohne sie ganz gelesen zu haben, einfach auf den Schreibtisch geworfen hatte, Dr. Zentner, Herr von Wülknitz, der Leiter der politischen Redaktion, und der amerikanische Kontrolloffizier, den ich nur vom Sehen kannte, denn er saß in einem anderen Stockwerk und ließ sich nur gelegentlich in der Redaktion blicken.

»Wo haben Sie das her?«

»Wo haben Sie das her?« fragte Erik Reger. Ich erzählte von Hanns Spudich, meinem ehemaligen Chef, der jetzt Generalsekretär bei Oberbürgermeister Dr. Arthur Werner war und Tür an Tür mit dem Stadtrat für Personal und Verwaltung, Arthur Pieck, saß. »

Ja, aber«, brauste Dr. Zentner auf, »Sie sind doch ins Hauptquartier nach Karlshorst geschickt worden! Was haben Sie denn im Magistrat verloren?« M-D zerbiß fast seine Pfeife. Ich flunkerte: »Spudich hatte mich um einen Besuch gebeten, und weil ich sowieso zum Polizeipräsidium in der Dircksenstraße mußte...«

M-D schrie: »Haltet mich fest, sonst bring ich ihn um! Er sollte sofort nach der Pressekonferenz zurückkommen!« Der amerikanische Kontrolloffizier mischte sich ein, ein ehemaliger deutscher Jude:

»Ach, papperlapapp, seien Sie froh, daß er die Papiere mitgebracht hat, Meyer! Ich bin dem jungen Mann sehr dankbar, ich lade ihn zum Essen ein!«
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Ich war jetzt eine zentrale Informationsquelle

Auch Erik Reger in seiner ernsten, bedächtigen Art fand das Ergebnis meines Magistratsbesuches wichtiger als Disziplinarfragen und ersuchte mich, den Kontakt zu Spudich »sorgfältig zu pflegen«, der Generalsekretär befinde sich offenbar in einem Dilemma.

So war's, und diese Sitzung am Abend bei Reger vertiefte Spudichs Probleme ganz entscheidend, denn Herr von Wülknitz, der politische Ressortleiter, pflegte geheime Kontakte zum Sowjetsektor und verschwand wenige Tage später, sozusagen spurlos, aus der »Tagesspiegel«-Redaktion, um als Redakteur im Impressum des sowjetischen Armeeblattes »Tägliche Rundschau« wieder aufzutauchen.

Der Kontrolloffizier nahm mich mit in sein Zimmer und ließ von seiner deutschen Sekretärin einen Topf gefrorener Erbsensuppe warm machen, spendierte sogar zwei Würstchen aus Army-Beständen.

Das war die Dinner-Einladung für die Beschaffung des ersten Entwurfs einer neuen Berliner Verfassung, der dann auch prompt von den amerikanischen Vertretern in der Alliierten Kommandantur abgelehnt wurde, als die Sowjets ihn acht Wochen später vorlegten.

Hauptsächlich ging es wohl darum, daß Personalchef Arthur Pieck die Ernennung seiner kommunistischen Vertrauensleute in der Verwaltung, unter Berufung auf die Berliner Verfassung von 1921, auf zwölf Jahre festgeschrieben haben wollte.

Was Amerikanern und Briten überhaupt nicht gefiel; sie hatten, als sie im Juli 1945 nach Berlin kamen, den elf Tage nach der Kapitulation von Sowjetgeneral Bersarin eingesetzten Magistrat fix und fertig vorgefunden. Und täglich fanden sie mehr Gründe für die Annahme, daß sie von den Sowjets und ihren kommunistischen Helfershelfern über den Tisch gezogen werden sollten. Im zweiten oder dritten Entwurf der Verfassung setzten sie durch, daß die hauptamtlichen Magistratsbeamten nur für die Dauer einer Wahlperiode ihr Amt bekleiden durften.
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