Sie sind hier : Startseite →  Film-Historie 1→  Will Tremper - mein Leben→  Tremper - Meine wilden Jahre - 08

Will Tremper war 16 Jahre alt, als der 2. Weltkrieg zuende ging.

In seiner Biografie von 1993 beschreibt Will Tremper, wie er als überzeugter Hitlerjunge die Zeit ab 1939 erlebt hatte und was davon bei ihm unauslösch- lich im Kopf hängen geblieben war. Und er erzählt von seinen Erlebnissen in Berlin unter den Bomben. Lesenswert ist dazu auch "Als Berlin brannte" (Hans-Georg von Studnitz). Der Zusammenhang schließt sich über die Curt Riess'sche Biografie "BERLIN 1945-1953" und dessen beide dicken Film-Bücher, in der der Name Tremper aber nicht genannt wird. Will Tremper hingegen schreibt daher sehr genüsslich über "die anderen Seiten" bekannter Personen aus Politik und Film - natürlich auch über Curt Riess. Die einführende Seite steht hier.

.

Am Sonnabend, 7. April 1945 - Die Geschichte vom Werwolf

Einen richtigen Schock erlitt ich nicht, wenn ich darauf gefaßt war, einen Schock zu erleiden. Einen richtigen Schock erlitt ich am Sonnabend, dem 7. April 1945, als ich wieder einmal von einer Dienstreise nach Berlin zurückkehrte, an der Ecke Lothringer Straße aus der Straßenbahn sprang - und meine Reichsjugendführung nicht mehr vorfand.

Zwar stand das graue Gebäude noch, so wie es auch heute noch da steht, aber eine Luftmine hatte es durchgepustet und sämtliche Innenwände herausgeschleudert: Man konnte durch das gewaltige Jonas-Haus hindurchsehen wie durch eine Theaterdekoration.
.

Sind nach Bad Tölz umgezogen - bitte nachkommen!

Und auf dem Hof, am Eingang unserer Reichsbildstelle, hing ein Zettel: »Sind nach Bad Tölz umgezogen - bitte nachkommen!« Ich hatte meinen Schock. Ich saß so, wie ich aus der Straßenbahn gesprungen war, in der einen Hand den Rucksack, in der anderen einen Apfel, auf einem Stein vor der mit dichtem Stacheldraht geschützten Kellertür und versuchte nachzudenken.

Wo könnte ich hingehen? Alle waren weg. Die Spudichs seit den letzten Luftangriffen auf dem Land, irgendwo. Olle Krüger bei seiner Großmutter in Bernau, aber wo in Bernau? Bille irgendwo in München. Otto Heinzelmann - verschwunden. Fritz Emde in Bad Tölz.

Wo sollte ich schlafen? Wenn ich zur Heerstraße fuhr, würden sie mir eine Panzerfaust in die Hand drücken, und ich würde noch einen Schuß abfeuern und dann sterben. Ich überlegte schon, ob ich zur Reichskanzlei in die Voßstraße gehen und mich den letzten Verteidigern des Führers anschließen sollte.

Wenn schon sterben, dann groß und mit Stil! So eine Scheiße. Hauen die einfach ab nach Bad Tölz. Wie so oft, halfen mir die letzten jämmerlichen Sirenen, die den nächsten Luftangriff ankündigten, auf die Beine.
.

Und wieder ein Luftangriff ... und ein Kühlschrank ???

Ich sah mir die Stacheldrahttür näher an. Warum soviel Stacheldraht? Dann bemerkte ich, daß sie nur noch in den Angeln hing, eine schwere, eiserne Tür, und schon nahm ich einen meiner neuen Halbschuhe, steckte die Hand hinein wie in einen Handschuh und fing an, am Stacheldraht zu zerren.

Als die Flak mit dem Schießen begann und die ersten Splitter regneten, hatte ich das Hindernis überwunden und sprang die Kellertreppe hinunter.

Oh, Wunder über Wunder! Das Licht brannte, das Radio war noch da, der Kühlschrank enthielt schimmernde Weißblechbüchsen mit Rindfleisch, mindestens zehn Stück, und davor stand ein Zettel: »Du brichst ja doch hier ein, anstatt nach Bad Tölz nachzukommen. Ich hinterlasse dir meine eiserne Ration. Viel Glück - Fritz E.«
.

Ich spürte das nahende Ende des Großdeutschen Reiches

Vollgefressen wie seit meiner Kindheit nicht mehr, als ich einen ganzen runden Zwetschenkuchen meiner Mutter verdrückt hatte, lag ich um Mitternacht vor dem Radiosuper und machte mir über ausländische Sender ein Bild der Lage: Der russische Ring um Berlin war dabei, sich zu schließen, sagten die Engländer.

Das OKW berichtete, wie tapfer sich die Verteidiger Großdeutschlands gegen die »asiatische Flut« zur Wehr setzten. Die Sowjets, die es sich an der Oder »gemütlich« gemacht hatten - die Briten benutzten tatsächlich das deutsche Wort -, waren zum letzten Sturm auf Berlin angetreten, und in den Ausfallstraßen der Stadt wurden von alten und jungen Volksstürmern Barrikaden errichtet, ausgebrannte Straßenbahnwagen umgekippt und als Panzerhindernisse hergerichtet.

Ich spürte bis in die Zehenspitzen das nahende Ende des Großdeutschen Reiches, war aber unfähig, mir auszumalen, was das in der Realität bedeuten konnte. Immer noch überzeugt davon, daß Goebbels als Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar Berlins eiserne Reserven in der Rückhand hatte, die er, ebenso wie die geheimen »Wunderwaffen«, einsetzen würde, falls es »zum Äußersten« kam, schwankte ich zwischen Abenteuerlust (»Ich bin dabeigewesen!«) und schlichter Angst vor den »bestialisch mordenden Bolschewiken«, wie überall zu hören war.
.

Die Amerikaner waren auf dem Weg nach Thüringen

Die Amerikaner hatten schon das Rheinland besetzt und befanden sich auf dem Weg nach Thüringen, dem »grünen Herzen Deutschlands« - ihnen wäre ich am liebsten in die Hände gefallen.

Doch die Russen standen an manchen Stellen »keine fünfzig Kilometer mehr vor Berlin« und würden wohl zuerst da sein. Während solche wirren Überlegungen durch meinen Kopf schössen, drehte ich unaufhörlich am Radio -und hatte plötzlich eine ganz nahe, laute und klare Stimme im Ohr, die fast monoton Zahlen verlas, geheimnisvolle Zahlengruppen: »Neunzehn nach dreizehn - siebenundzwanzig bleibt - Drei bitte melden, ich wiederhole: Drei bitte melden!« Wie ein mysteriöses Schachspiel, und dazwischen erregende Anweisungen wie: »Alarm für Gruppe elf aufgehoben! Ich wiederhole...« Oder »Achtung Grün X: Der Befehl gilt nur bis Mitternacht - dann neue Anweisungen abwarten!« Was, zum Teufel, war das?
.

Es gab immer noch Strom in Berlin

Ich klebte mit dem Ohr am Radio, aber die Durchsage endete ebenso plötzlich, wie sie begonnen hatte. Danach ertönte leise, ferne Musik, unterbrochen von einem Pausenzeichen, das sich wie Morsetöne anhörte. Und danach muß ich eingeschlafen sein, wurde Stunden später noch einmal wach, als Bomben in der Nähe fielen, und schlief wieder ein.

Fast den ganzen folgenden Sonntag verbrachte ich mit Radiohören und Fressen, Schlafen, Herum wandern, vor die Tür tretend und schnell wieder im Keller verschwindend, wenn die Flak anfing zu schießen. Und dann nachts wieder: »Achtung! Achtung! Hier spricht der Werwolfsender! Gruppe Elf wechselt Standort sofort! Ich wiederhole: Gruppe elf wechselt...«
.

Ich mußte zum Werwolf !

Werwolf! Ich war wie elektrisiert, ich sah die Lösung: Ich mußte zum Werwolf! Ich dachte immerzu an die Familie in Braubach, die verlorenen Freunde, von den Amerikanern überrollt - wie es denen wohl erging?

Schmachteten sie in Gefangenenlagern? Waren sie bei der Verteidigung gefallen? Nur als Werwolf würde es mir möglich sein, die Front nach Westen zu passieren, zurück ins Rheinland zu kommen, Vater und Mutter wiederzusehen!

Der Werwolf, soviel verstand ich, war eine deutsche Geheimorganisation, eine Untergrund- oder Widerstandsarmee, waren die deutschen Partisanen, die im besetzten Deutschland gegen die Amerikaner und Engländer kämpften, Sabotageakte durchführten, den Siegern das Leben schwermachten. Zum Werwolf mußte ich! Zu einer der geheimnisvollen Gruppen Elf oder Siebenundzwanzig!
.

Montag der 9. April - auf zum Werwolf

Montag kam, der 9. April, und ich machte mich auf die Socken, um den Werwolf zu finden. Schon am Sonntag hatte ich telefonisch über den Berliner Rundfunk in der Masurenallee etwas zu erfahren versucht - das Telefon funktionierte, Gott sei Dank, immer noch -, war aber auf Ablehnung, ja Unverständnis gestoßen.

Einer hatte sogar gelacht und »Warum versuchen Sie's nicht mal bei der Gauleitung?« gesagt, bevor er auflegte. Angeblich wußte kein Mensch beim Rundfunk etwas über den Werwolf-Sender.

Bei der Gauleitung der NSDAP in der Hermann-Göring-Straße am Potsdamer Platz starrte mich ein einarmiger, in feldgrau steckender Pförtner lange an, als ob er an meinem Verstand zweifle, ließ sich dann aber von meiner Auskunft irritieren, der Reichssender Berlin habe mich an die Gauleitung verwiesen, und fing an herumzutelefonieren.

Dann schickte er mich zum Gau-Presse- und Propagandaamt in die Leipziger Straße hinüber, wo das Spielchen von vorne losging. Alle hatten wohl schon was vom »Werwolf« gehört, aber noch nie jemanden gesehen, der ganz offiziell zu ihm wollte.

Ich muß einen ungemein ernsten Eindruck auf die Leutchen gemacht haben, unterstützt natürlich von meinem Hausausweis der Reichsjugendführung, jedenfalls bequemte sich der Typ in der Leipziger Straße, verschiedene Nummern im Haus anzurufen, mir immer wieder einen beunruhigten Blick durch die geschlossene Glasscheibe zuzuwerfen, schließlich einen Besucherzettel auszuschreiben und mich in den zweiten Stock zu einem Dr. Soundso zu schicken.
.

Die höheren Ränge muße ich überzeugen, daß ich es ernst meine

Ich wurde von einem interessiert guckenden Mann mit Schmissen in Parteiuniform empfangen, der wohl einen höheren Rang bekleidete, denn dauernd kamen andere hinzu, salutierten vor ihm und setzten sich neben seinen Schreibtisch, ohne selbst ein Wort zu sprechen, aber ständig Blicke mit meinem Gesprächspartner wechselnd.

Der wollte ganz genau wissen, warum es mich zum Werwolf zog und nicht zum Volkssturm. Ich sprudelte aufgeregt heraus: »Ich bin als Kurier der Reichsjugendführung - Reichsbildstelle - unterwegs gewesen und habe meine Dienststelle ausgebombt vorgefunden.

Aber wie soll ich Hauptbannführer Emde nach Bad Tölz folgen? Ich stamme aus der Rhein-Mosel-Lahn-Gegend, dem Zusammenfluß strategisch wichtiger Ströme, kenne mich da fabelhaft aus und könnte die Nachschubstrecken der Amerikaner in die Luft jagen!

Meine Mutter und meine Geschwister sind von diesen Schweinen umgebracht worden! Ich hasse die Amis! Ich hasse die Amis! Und wenn Sie mir nicht zum Werwolf verhelfen, ziehe ich eben allein los...«

Blickwechsel der Zuhörer.

»Ich kann meinen ganzen alten Jungzug reaktivieren, meine Jungens machen alle mit! Die sind fanatische Gefolgsleute des Führers!« Und so weiter. Ich weiß nicht, was ich denen alles erzählt habe, doch ich weiß, daß ich ein ungeheures schauspielerisches Talent entwickelt haben muß, denn sie haben mir immer wieder auf die Schulter geklopft und »Beruhige dich, Junge! Beruhige dich!« gesagt.

Und nach einer guten halben Stunde haben sie mich vor die Tür geschickt und sich leise beraten, und als sie mich wieder hereinriefen, haben sie mir stehend versichert, daß sie meine Angaben nachprüfen und mir schnellstens Bescheid zukommen lassen würden - »Du bist in der RJF weiter zu erreichen? Dann rühr dich nicht vom Telefon! Du wirst von mir hören, Kamerad! Heil Hitler!«

Als dann doch das Telefon im Keller klingelte .....

So lief das, und ich war noch nicht wieder durch den Stacheldraht an meinem Kellereingang geklettert, da hörte ich schon das Telefon in der Reichsbildstelle läuten, und eine Stimme sagte: »Kamerad Tremper? Wir überprüfen die Angelegenheit noch! Falls du bis Mittwoch, dem 11. April, nichts von uns hörst, erwarten wir dich zu einem zweiten Gespräch in der Leipziger Straße! Hitler!«

Am Mittwoch war ich da, wurde von einem der stummen Untergebenen empfangen und belehrt, daß alles, was ich jetzt hören würde, der strengsten Geheimhaltung unterliege - ich glaube, ich habe sogar den Schwurfinger heben müssen.

Dann bekam ich die Anweisung, mich am folgenden Tag, Punkt 17.00 Uhr, in der Rothenburgstraße soundsoviel, beim Fichtebunker in Steglitz, einzufinden, dort würde ich Weiteres erfahren.

All mein Fragen, wen ich dort treffen würde, ob dort der »Werwolf« wäre, etc., half nichts; ich wurde hinauskomplimentiert.
.

jetzt weiter in Kurzform .....

Ich mache es jetzt kurz: Vor der Tür einer alten Villa am Fichtenberg in Steglitz stand, in einem Schilderhäuschen, eine SS-Wache, und niemand erklärte sich für mich zuständig. Ich wartete in einer dunklen Empfangshalle, sah ständig Offiziere über knarrendes Parkett von einem Zimmer ins andere eilen, während in meiner »Angelegenheit« wieder einmal heftig telefoniert wurde.

Endlich kam eine untere Charge und drückte mir einen Zettel in die Hand, auf dem nichts anderes stand als »Weinmeisterhöhe soundsoviel, Spandau«. Einfach war es nicht, dem Werwolf beizutreten.
.

Am Morgen des 12. April - von einem Waffen-SS-Offizier angeblafft

Am nächsten Morgen, dem 12. April, fuhr ich mit der S-Bahn vom Bahnhof Börse, denn am Alexanderplatz mußten schon wieder Gleise repariert werden, bis zur Heerstraße, und von da aus ging's per pedes weiter bis hinter die Havel und dann links ab bis zu einer umzäunten Militäranlage mit dem Schild am Eingang: »Der Höhere SS-und Polizeiführer Berlin-Brandenburg«.

Wieder wußte niemand etwas mit mir anzufangen, mußte herumtelefoniert werden, und bis sich endlich jemand fand, der von meiner »Angelegenheit« gehört hatte, wurde es Spätnachmittag, und der Donnerstag war auch schon wieder gelaufen.

Als ich zu meckern wagte, von wegen »Dolle Organisation beim Werwolf!«, wurde ich von einem Bullen von Waffen-SS-Offizier angeblafft: »Glauben Sie, wir haben nichts Wichtigeres zu tun, als uns mit Ihrem Mist zu befassen?« - Mist sagte der Kerl zu meiner Bereitschaft, mich für den Führer zu opfern.
.

Eine ganze Nacht im Motorboot geschlafen und nochmal ....

Es lohnte sich nicht, wieder durch die ganze Stadt zurückzulaufen oder zu fahren und am nächsten Morgen wieder hierher. Ich nahm einen schmalen Fußgängerweg hinunter zur Scharfen Lanke und gesellte mich zu einer Gruppe mit Panzerfäusten bewaffneter Hitlerjungen, die um ein verdecktes Lagerfeuer saßen und beim Anblick meines Ärmelstreifens »Reichsjugendführung« aufsprangen und die Hände an die Hosennaht legten; einer erstattete mir sogar Meldung.

Ich dankte, ließ sie sich wieder setzen und schlenderte zu einem der vielen Bootshäuser am Ufer, in dem ein eingemottetes Motorboot lag. In der Ecke waren passende Matratzen sauber aufgeschichtet.

Ich schnappte mir eine, machte es mir in dem Boot bequem, und schon war ich eingeschlafen. Als ich nachts durch Flakbeschuß wach wurde, hörte ich die Hitlerjungen leise »Wildgänse rauschen durch die Nacht« singen, aber was durch die Nacht rauschte, waren englische Mosquitos.

Am nächsten Morgen stand ich Punkt acht wieder im Vorzimmer des »Höheren SS- und Polizeiführers Berlin-Brandenburg« und bekam, ohne weitere Warterei, einen Marschbefehl auf DIN-A5-Bogen: »An den Höheren SS- und Polizeiführer Thüringen, Weimar: Der Werwolf Will Tremper ist in Sonderauftrag unterwegs nach Westdeutschland. Es wird ersucht, ihn mit Waffen, Sprengstoff und Munition auszurüsten. Heil Hitler, gez...«

Vielleicht stand auch nur »Mit deutschem Gruß!« drunter, jedenfalls hielt ich ein Passepartout in Händen, wie ich es mir wirkungsvoller nicht hätte erträumen können - an die Gefahr, die von diesem Schrieb ausging, dachte ich vorläufig noch nicht.
.

Der Werwolf - eine Propagandaidee von Goebbels

Aber, merkwürdig: Von dem Moment an, da mir dieser Werwolf-Marschbefehl überreicht wurde, wußte ich auf einmal, daß er ein Jux war, daß es gar keinen »Werwolf« gab, daß ich die Herren der Gaupropagandaleitung lediglich durch die Intensität meines Vortrages bewogen hatte, mich zur SS zu schicken und mir diesen Ausweis ausstellen zu lassen; vielleicht glaubten sie sogar, nicht nur mir, sondern auch der sogenannten »Reichsverteidigung« einen Gefallen zu tun.

Jedenfalls konnte ich mir von diesem Augenblick an nicht vorstellen, daß auf die Weise, in der ich mich um den Werwolf beworben hatte, noch irgendein anderer Hitlerjunge rekrutiert worden war.

Das Ganze war wieder einmal eine Propagandaidee von Goebbels gewesen, und zwar eine gute: Die Amerikaner fielen ebenso prompt darauf herein wie auf das Märchen von der »unüberwindlichen Alpenfestung«. Beim Hinausgehen traf ich den bulligen Waffen-SS-Offizier wieder, der eine Kanne dampfenden, duftenden Bohnenkaffee in der Hand trug. »Na«, begrüßte er mich, »hast du endlich, was du wolltest? Komm, ich geb' dir noch 'ne Tasse Kaffee aus!« Das tat er tatsächlich.

Wir standen nebeneinander an seinem Bürofenster, schlürften echten Kaffee und betrachteten mehrere hundert am Ufer angetretene Hitlerjungen. Kopfschüttelnd sah er ihnen zu und murmelte, als ahnte er, was wenige Tage später, bei der Verteidigung der Havelbrücken, aus ihnen werden würde: »Arme Schweine...!« Als ich mich bedankt und verabschiedet hatte, rief er mir nach: »Heute ist Freitag, der Dreizehnte, Werwolf!« Und lachte wie irre.

Also doch lieber nicht am "Freitag, dem 13."

Ich sauste zurück zum Prenzlauer Berg und fing an, meinen Rucksack zu packen, hatte Schwierigkeiten, mich von diesem oder jenem zu trennen, verzichtete schließlich schweren Herzens auf die schwarze Hitlerjugendjacke mit dem Ärmelstreifen und zog die Windjacke, in der ich heil aus Minsk ausgeflogen war, über die schwarze »Überfall«-Hose.

Als ich mich beim Hinausgehen noch einmal umblickte - im Rucksack die letzten vier Dosen Rindfleisch -, begann gerade wieder ein Luftangriff, und mir fiel »Freitag, der 13.« ein. Da beschloß ich plötzlich, noch einmal Nachrichten zu hören, packte wieder aus, legte mich - wie in den Nächten zuvor - auf die gepolsterte Sitzbank von Emdes Büro und schaltete den Radiosuper wieder an.

Erst nach Mitternacht, als der 13. vorbei war, machte ich mich endgültig auf den Weg, schweren Herzens, wie ich zugeben muß. Ob ich Berlin noch einmal wiedersehen würde?

Schlafend durch die Front

Erst auf dem Dach des Personenzuges, der am Samstag, dem 14. April, gegen 14.00 Uhr den Anhalter Bahnhof Richtung Westen verließ, fiel mir auf, daß ich genau ein Jahr vorher, am 14. April 1944, und auch noch zur selben Tageszeit, im benachbarten Potsdamer Bahnhof in Berlin angekommen war.

Erst jetzt packte mich der Aberglaube, aber ich hielt diesen Zufall für positiv. Sogar der Ruß, der mir von der Lokomotive ins Gesicht flog, war aus dem gleichen Braunkohlengemisch, das mich bei meiner ersten Ankunft in Berlin schon geschwärzt hatte.

Wieviel war in diesem Jahr passiert! Ich war nur ein Jahr älter geworden, hielt mich aber für um Jahre gealtert und hatte alle großen Zukunftspläne, von wegen Filmregisseur und so, verloren.

Was jetzt zählte, war nur noch die nackte Existenz.
.

Auf dem Zugdach bis nach Halle ...

Den Platz auf dem Dach hatte ich mir, mit Hunderten von anderen Flüchtlingen - genau wie jede Menge »alter Weiber«, sogar kleine Kinder - beim Einsteigen brutal erkämpft. Das Mitfahren auf dem Dach, anstatt wie ein Hering in den Zugabteilen zusammengepreßt zu werden, war zum beliebtesten Sport geworden.

Die Luft war ausgezeichnet, wenn der Ruß der Lok uns nicht gerade in die Augen wehte, und die Stimmung unter meinen Mitfahrern, die alle einen Berechtigungsschein hatten vorweisen müssen, um eine Fahrkarte zu bekommen, war nur mit Galgenhumor zu bezeichnen.

Eine Zeitlang ging es flott voran, dann kamen wieder endlose Haltereien, es gab hinter uns Bombenalarm, einmal hieß es sogar »Tiefflieger!«, aber irgendwie fuhr dieser Zug immer weiter.

Als es dunkel wurde, verschwanden viele vom Dach, denn das Gerücht verbreitete sich, daß die Amerikaner schon in Magdeburg wären. Doch der Zug fuhr nach Halle, wo wir so gegen 22 Uhr in totaler Finsternis ankamen - vor dem Hauptbahnhof. »Alles raus!« rief ein vorbeilaufender Eisenbahner. »Endstation!«
.

Die AMIs sind da ....

Ich wanderte mit meinem Rucksack, schon wieder eine Büchse Rindfleisch verschlingend, immer den Gleisen entlang, vorbei an furchtbaren Verwüstungen durch Bomben, die von Fremdarbeiterkolonnen, fluchend in allen möglichen Sprachen und in ägyptischer Finsternis, wieder beseitigt wurden, und fand mich, nach Mitternacht, auf einer endlos langen, schnurgeraden Straße wieder - der Merseburger Landstraße, wie mir eine Gestalt im Dunkel zurief.

Ich marschierte noch nicht lange, da blitzte es auf einmal vor mir auf. Eine gewaltige Detonation ertönte, und als ich näher kam, sah ich ein schweres 8,8-cm-Flakgeschütz mitten auf der Straße stehen, das in direktem Erdbeschuß nach vorne gerichtet war.

»Die Amis sind da!« riefen Hitlerjungen; ich schlug mich seitlich ins Feld und überlegte, was ich tun sollte. Meinen Werwolf-Marschbefehl, den ich zum erstenmal auf dem Anhalter Bahnhof mit größtem Erfolg hatte vorweisen können, versteckte ich jetzt in der linken Socke und gab es auf, noch weiter im Dunkeln herumzuirren.

Ich legte mich zum Schlafen unter einen Baum, doch es wurde eine sehr unruhige Nacht.
.

Wie komme ich von Halle nach Koblenz ?

Mit dem ersten Morgengrauen, kurz nach drei Uhr, war ich wieder auf den Beinen. Ich trug seit Tagen eine handtellergroße Karte von Großdeutschland in der Tasche, auf der ich mir den Weg von Berlin nach Koblenz mit einem einzigen geraden Strich kenntlich gemacht hatte.

Halle lag rechts neben dem Strich, Leipzig links, also marschierte ich in Richtung des Flughafens Schkeuditz, kam aber nie dort an. Am Nachmittag überquerte ich vor Weißenfels die Autobahn, auf der verdächtigerweise überhaupt kein Verkehr mehr herrschte, tauchte in einem Wäldchen unter und stieß irgendwann an ein kleines, ruhig dahinfließendes Gewässer, das derartige Friedensgefühle in mir weckte, daß ich sofort Schuhe und Strümpfe auszog und die Beine im Wasser baumeln ließ.
.

Ein Deutscher brüllt »Hands up!«

Ausgerechnet in dieser Situation brüllte plötzlich jemand: »Hands up!« Aus einem Gebüsch auf der gegenüberliegenden Seite des kleinen Flusses sprang ein Luftwaffenoffizier, ein junger Leutnant der Flak, mit angelegtem Gewehr.

Wegen meiner Windjacke hatte er mich für einen Ami gehalten! Der Typ hatte mehr Angst als ich und fiel vor Staunen fast auf die Knie, als ich ihm, hinüberwatend, meinen Werwolf-Ausweis zeigte.

Geradezu devot begleitete er mich zu seiner kleinen Einheit, wiederum nur Flakhelfer in meinem Alter, die hinter einer Biegung des Flüßchens ein Zweizentimetergeschütz auf einer kleinen Erhebung eingegraben hattea »Die Amerikaner«, hörte ich, »sind da drüben auf der Anhöhe, Ziel zweitausend« - also zwei Kilometer entfernt - »und benutzen nur die Straße nach Weißenfels! Jedesmal, wenn wir einen Schuß abgeben, stoppen sie kurz mal ihre Lastwagen und Jeeps - und fahren weiter! Die trauen sich einfach nicht, zurückzuschießen oder uns anzugreifen!« Der arme Irre.

Und dann wurde ich von den Amerikanern gefunden

Aber er zeigte mir den Weg zum Feind. Ich sagte zu der Gruppe Flakhelfer, sie sollten aufpassen und nicht versehentlich auf mich schießen, und rutschte den kleinen Hang runter, um in der Dämmerung am Ufer des Flüßchens entlang dem Feind entgegenzuwandern.

Als es immer dunkler wurde und ich außer Blickweite der Flakhelfer war, kroch ich in einen vergammelten Heuschober und harrte der Dinge. Das liest sich heute alles so unglaublich einfach, aber es war verdammt gefährlich. Wenn es um die Wurst geht, wenn nur noch der Instinkt zählt, dann tut der Mensch unglaubliche Dinge.

Dann schläft er mitten in der Gefahr, zwischen den beiden tödlichsten Fronten eines Weltkrieges, sogar »wie in Abrahams Schoß«.

Ich wurde jäh wach durch etwas Glattes, Dunkles, das dicht an meinem Kopf vorbeizischte, griff danach und schrie auf - es war die Schneide eines aufgepflanzten Bajonetts, die mir über die Fingerkuppen der linken Hand fuhr, wie ich im nächsten Augenblick Gelegenheit hatte festzustellen, als ich am Bein ergriffen und aus dem Heuschober gezogen wurde: Amis!

Ein dicker Negersoldat hatte mich am Schlafittchen.

Ich hatte mir für diese erste Begegnung mit den Amerikanern etwas Raffiniertes, wie ich glaubte, ausgedacht: Ich hob die Hände und rief: »I am a Jew!« - Ich bin ein Jude! -, aber die Wirkung war mehr als enttäuschend. Ich bekam einen Stoß von seinem Gewehrkolben und »Go on!« zu hören, und dann sah ich auch die anderen, die in einer losen Schützenkette am Flüßchen entlang nach Osten schwärmten, sich immer wieder hinwarfen und aufsprangen.

Dann wurde auf einmal auch geschossen. Es war vielleicht vier oder fünf Uhr morgens, am Sonntag, dem 15. April 1945. Ich lief mit erhobenen Händen, wie ein Schwein blutend, Richtung Westen.

Erst nach ein paar hundert Metern, als mir immer mehr amerikanische Soldaten entgegenkamen und einer mir, kopfschüttelnd, ein Verbandspäckchen zuwarf, wurde mir klar, daß drei Finger meiner linken Hand bis auf die Knochen von dem Bajonett des dicken Negers abgeschnitten worden waren, als er wahllos in den Heuschober gestochen - und ich danach gegriffen hatte. Ein wahres Wunder, daß er mir mit der scharfen Spitze seines Seitengewehrs nicht in den Kopf gestochen hatte. Noch ein Wunder! Und es sollte nicht das letzte sein.
.

- Werbung Dezent -
Zur Startseite - © 2006 / 2024 - Deutsches Fernsehmuseum Filzbaden - Copyright by Dipl. Ing. Gert Redlich - DSGVO - Privatsphäre - Redaktions-Telefon - zum Flohmarkt
Bitte einfach nur lächeln: Diese Seiten sind garantiert RDE / IPW zertifiziert und für Leser von 5 bis 108 Jahren freigegeben - kostenlos natürlich.