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Die Lebensbiografie von Heinrich Fraenkel (1960)

In diesem Buch beschreibt Heinrich Fraenkel (1897-1986†) seinen Werdegang und seine Erfahrungen mit den Menschen aus seinem persönlichen Umfeld, den Politikern, den Künstlern und auch den einfachen Menschen. Aus diesem Grund ist seine Biografie für uns so wichtig - auch für das Verstehen seiner beiden dicken Filmbücher, die er 1957 und 1958 geschrieben hatte.

Die einführende Start-Seite dieses Buches finden Sie hier.

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Ich war 1940 Zivilinternierter der Britischen Regierung .....

Es war im Sommer 1940, als mir mein Freund aus der Fasanenstraße die seltsamen Umstände erzählte, unter denen ein Teil seiner Wohnungseinrichtung gerettet wurde, und der Ort der Erzählung war nicht minder seltsam als die Geschichte.

Wir befanden uns nämlich als Zivilinternierte der Britischen Regierung auf der Insel Man im Irischen Kanal. Ich denke gern an diese Zeit zurück und möchte auch sie nicht aus meiner Entwicklung missen. Denn es war eine Zeit, in der ich vieles (und zumeist recht Erfreuliches) lernte - viel über meine deutschen Landsleute und viel auch über England und die Engländer.
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und ich hatte vollstes Verständnis für dieses Maßahme

Wenn man bedenkt, daß jene Sommermonate des Jahres 1940 wohl die schlimmste und gefährlichste Zeit waren, die das britische Inselvolk seit vielen Jahrhunderten erlebt hatte; wenn man erwägt, daß die britische Expeditionsarmee gerade erst nach dem Verlust sämtlicher Waffen und Munitionslager aus Dünkirchen evakuiert worden war, und daß nur ein paar hundert Jagdflieger zur Verfügung standen, um in fast ununterbrochenem Einsatz die Heimatinsel gegen die riesenhafte Überlegenheit der Luftwaffe und ihre von Nacht zu Nacht massiveren Angriffe zu verteidigen.

Wenn man ferner bedenkt, daß diese für damalige Begriffe gewaltigen Bombenangriffe als Ouvertüre der Invasion galten, die man fast stündlich erwartete, dann wird man es begreiflich finden, daß die Britische Regierung jedes vermeidliche Risiko auszuschließen wünschte und etwa 50 000 deutsche Emigranten kurzerhand einsperrte.

Es war ja immerhin möglich, daß der deutsche Geheimdienst und die deutsche Wehrmacht einige Spione unter der Maske von Emigranten ins Land geschickt hatten. Und obschon selbst bei vorsichtigster Schätzung eine solche Gefahr allerhöchstens mit 1:1000 zu kalkulieren war, so hielt ich es doch unter den Umständen für durchaus richtig, lieber 999 unschuldige (und nazifeindliche) Zivilisten einzusperren, als etwa zu riskieren, daß ein einziger Spion frei herumlief.
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Englands öffentliche Meinung war dagegen

Ich meinerseits hielt das für richtig, nicht aber Englands öffentliche Meinung, die auch in jener gefährlichen Zeit sich genauso energisch und deutlich Gehör verschaffte wie eh und je.

Hunderte von Leserbriefen erschienen in vielen Zeitungen und Zeitschriften und hatten Leitartikel und Reportagen zur Folge, die sich mit dem Thema der zu Unrecht eingesperrten Emigranten befaßten.

Und obwohl man doch gewiß andere Sorgen hatte, begann im Parlament und in Versammlungen, in der Presse und im Rundfunk eine große Kampagne, um das begangene Unrecht wieder gutzumachen.

In Engkland werden Prinzipienfragen durchgekämpft

Es war eben eine Prinzipienfrage, und so etwas - ist erst einmal die öffentliche Meinung mobil gemacht - wird in England zu jeder Zeit durchgekämpft. Die Folge war, daß weitere Internierungen sofort eingestellt wurden und gleichzeitig die Verwaltungsmaschinerie in Gang gesetzt wurde, um die schon Internierten zu sichten und baldigstmöglich zu entlassen.

Tatsächlich erfolgten schon nach vier oder fünf Monaten die ersten Entlassungen, darunter auch die meinige.
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Ich wollte prinzipiell keine »Beziehungen« spielen lassen

Ich hatte es begreiflicherweise und aus prinzipiellen Gründen vermieden, irgendwelche »Beziehungen« spielen zu lassen, um meine Internierung zu verhindern. Ich hatte auch später keinen Finger für meine Entlassung gerührt, und solange Chamberlain sich in der Regierungskoalition befand, war ich dickschädelig genug, meine Unterschrift unter jedem Entlassungsgesuch zu verweigern.

Trotzdem bemühten sich darum eine Menge von Menschen, die mir größtenteils persönlich unbekannt waren; aber es ging ihnen ja um die Sache, nicht um die Person.

Es waren unter ihnen Mitglieder des Unterhauses und des Oberhauses, sowie eine ganze Reihe anderer Prominenzen, unter ihnen auch Ellen Wilkinson, Unterstaatssekretär im Innenministerium, also eben dem Regierungsressort, das meine Internierung verfügt hatte.

Begreiflicherweise sind mir solche Bemühungen menschlich nahe gegangen. Vor allem aber habe ich daraus viel für meine Erkenntnis Englands und der Engländer gelernt, und eben deshalb müssen diese Dinge hier erwähnt werden.
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Und dann bekam ich den Buchauftrag von Victor Gollancz

Noch bezeichnender freilich war ein anderer Vorgang, der in der Tat nur in England möglich ist und anderswo unter den gleichen Umständen völlig undenkbar wäre.

Ich war nämlich noch keine zwei Wochen im Lager, als ich von Victor Gollancz einen Buchauftrag bekam. Ich sollte - das wurde in dem Auftragstelegramm deutlich erklärt - mit schonungsloser Offenheit die Fehler der britischen Deutschlandpolitik zum Ausdruck bringen.

Das Buch habe ich dann in den nächsten zwei oder drei Monaten meiner Internierung geschrieben, es erschien (ein paar Tage vor meiner Entlassung) unter dem Titel "Help us Germans to beat the Nazis", und es enthielt, unvermeidlicherweise, sehr scharfe Angriffe gegen einige Mitglieder der Britischen Regierung.
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Doch zuerst brauchte ich als Internierter eine Erlaubnis

Um als Internierter das Buch schreiben zu können, mußte ich natürlich von eben jener Regierung die Erlaubnis bekommen; diese wurde vom Innenministerium prompt erteilt, und der Lagerkommandant bekam Anweisung, mir die für meine Arbeit erforderlichen technischen Voraussetzungen zu schaffen.

Ich bekam also die Erlaubnis, eine Schreibmaschine zu mieten und Papier zu kaufen, und es wurde in der Hospitalbaracke ein Einzelzimmer für mich freigemacht.

Ich sagte dem Kommandanten, daß ich auch nachts, also nach dem »Licht-aus«-Signal, arbeiten müßte, und bekam die Erlaubnis, die ganze Nacht Licht zu brennen, sowie eine adäquate Verdunkelungsgardine und die Befreiung vom 8-Uhr-Morgenappell.
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Neben der Erlaubnis brauchte ich natürlich auch Material

Ich brauchte ja für das Buch auch noch das Material, eine Menge Material aus den unterschiedlichsten Quellen, und wie sollte ich mir das mittels des einseitig linierten Briefformulars besorgen, das normalerweise dem Zivilinternierten einmal pro Woche zur Verfügung stand?

So ein Brief ging durch die Zensur und benötigte 10 bis 14 Tage, um den Adressaten in London zu erreichen. Ich bekam also die Erlaubnis, meine ganze das Buch betreffende Korrespondenz durch das Büro des Lagerkommandanten zu befördern; und auf dem gleichen Wege erreichte mich das von meiner Frau (hier könnte man jetzt erstmalig in seinen Büchern erkennen, sie war Engländerin) in London gesammelte Material, darunter auch die jeweils neuesten (in Kriegszeiten natürlich nur durch eine Dienststelle des Außenministeriums beziehbaren) Nummern des Völkischen Beobachter sowie die erheblichen Mengen anderer Naziliteratur, die ich für meine Arbeit benötigte.
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Sogar NAZI Zeitungen durfte ich empfangen

Sogar das "Schwarze Korps" und "Der Stürmer" und natürlich auch das Militärwochenblatt kamen in jenen Tagen regelmäßig ins Lager und wurden mir prompt vom Kommandanten ausgehändigt. Er hatte den Rang eines Oberstleutnants, aber sein aktiver Dienst ging bis in die Zeit des ersten Weltkrieges zurück; er war längst pensioniert, hatte sich aber zu Beginn des zweiten Krieges zur Verfügung gestellt, um das bequeme Leben eines Landedelmannes mit den Pflichten eines Lagerkommandanten zu vertauschen.

Er dürfte wohl von Pferden, von der Jagd und vom Angelsport erheblich mehr verstanden haben als von den politischen Wirren des Kontinents, die auch ihn etwas zu verwirren schienen, denn ich war einmal zu meinem eigenen Erstaunen zufälliger Ohrenzeuge einer Bemerkung, die er zu seinem Adjutanten machte, als gerade ein »Zuzug« von ein paar Dutzend Zivilinternierten - fast durchweg »Wirtschaftsemigranten«, die noch kurz vor Kriegsausbruch aus Deutschland weggekommen waren - durch das Lagertor marschierte und zur Musterung antrat.

»Wie merkwürdig«, sagte der alte Colonel kopfschüttelnd zu seinem Adjutanten, »hätte nie gedacht, daß es unter diesen Nazis so viele Juden gibt«.
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Ich durfte im Laufschritt zum Kommandanten marschieren

Daß ich mit Erlaubnis der Obrigkeit ein Buch schrieb, schien dem alten Herrn einigermaßen verwunderlich, aber er befolgte pünktlich die ihm erteilte Dienstvorschrift, mir die erforderlichen "technical facilities" zu gewähren.

Falls er überhaupt politisch interessiert war, dürfte er sehr weit rechts von Victor Gollancz gestanden haben; und sei es, daß ihm der immerhin sehr berühmte Name meines Verlegers wirklich unbekannt war, sei es, daß es sich um eine »Freudianische Fehlleistung« handelte, er nannte ihn immer »Koblentz«.
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Wenn ich zum Empfang der mein Buch betreffenden Post zum Kommandanten bestellt wurde, dann spielte sich das so ab, daß der Sergeant-Major (also der »Spieß«) mich in meiner Klause abholte und in einer Art militärischem Laufschritt mit mir zum Büro des Kommandanten marschierte, wo er stramme Haltung annahm und seine Meldung machte, daß ich zur Stelle sei.

Ich selbst begnügte mich mit einer sehr zivilen Verbeugung und nahm dann dankend den Stoß Zeitschriften und anderes Material entgegen, das mir der Oberst über den Schreibtisch reichte.
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Der seufzte : »Telegramm von Koblentz«

»Telegramm von Koblentz«, sagte er seufzend, während er mir nachträglich noch ein Telegrammformular von seinem Schreibtisch reichte. »Hab's nicht gelesen. Was will denn der Koblentz schon wieder?«

Ich überflog das Telegramm und erklärte, mein Verleger wünsche so schnell wie möglich drei bis vier Titelvorschläge für das Buch. »Warum denn so viele?« fragte der Oberst etwas unwillig. »Einer sollte doch genügen«.

Ich erklärte, daß Verleger gern mehrere Titel zur Auswahl hätten, und daß ich in Voraussicht dieses Wunsches fünf Titelvorschläge vorbereitet hätte, worauf ich ihm die Liste mit den sauber getippten fünf Titeln über den Schreibtisch reichte und ihn um telegraphische Weiterleitung an den Verlag bat. »Warum denn die Eile? Sie haben ja das Buch noch gar nicht fertig.«

Ich erklärte, daß Verlagskataloge vorbereitet werden müssen, bevor alle darin angezeigten Bücher ganz fertig sind. »Koblentz wird's nicht so eilig haben«, meinte der Lagerkommandant, »ich werde ihm die Liste per Post schicken.«

Aber als ich dann erklärte, daß der Verlag die Titelvorschläge telegraphisch angefordert hätte, eben weil es sehr dringlich sei, nahm der alte Oberst stirnrunzelnd meine lange Liste in die Hand. »Na schön«, brummte er, »dann soll der Koblentz seine Liste telegraphiert bekommen.«
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Worauf ich mich höflich bedankte und wieder an meine unter so seltsamen Umständen zu leistende Arbeit ging; und als ich sie vollendet hatte, ließ ich mich wieder beim Kommandanten melden und legte ihm das säuberlich in einem dicken Pappdeckel geheftete Manuskript auf den Schreibtisch.
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Als das Manuskript fertig war .....

»So ein Haufen Papier«, brummte der alte Oberst, während er stirnrunzelnd die paar hundert Tippseiten durchblätterte, »wenn ich das alles lesen müßte, das würde wohl eine ganze Zeitlang dauern. Ich werde es lieber gleich dem Koblentz schicken.«

Mir fiel ein Stein vom Herzen, und ich bedankte mich sehr aufrichtig. Ich hatte mir ernsthafte Sorgen gemacht, daß er mindestens eine Woche brauchen würde, um das Manuskript zu lesen, bevor er es an den Verlag schickte.
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Ich bekam dennoch meiner »Stacheldrahtpsychose«

Aber kaum hatte ich das Büro des Kommandanten verlassen, als sich Symptome eben jener für die Gefangenschaft typischen Hysterie zeigten, für die es das Fachwort »Stacheldrahtpsychose« gibt. Schon nach wenigen Minuten war ich überzeugt (und wurde von meinen Freunden in der Überzeugung bestärkt), daß der Kommandant nicht nur eine Woche, sondern einen Monat über dem Manuskript brüten würde, und daß dann weitere kostbare Wochen »auf dem Dienstwege« vergeudet werden würden; daß das Buch, wenn es endlich den Verlag erreichte, jede Aktualität verloren haben würde, und daß somit die ganze fieberhafte Arbeit der letzten Monate vertan wäre. Es mußte sofort etwas geschehen, um solches Unheil zu verhüten.

Glücklicherweise hatte ich einige Durchschläge des Manuskripts. Die konnte ich ein paar zuverlässigen Kameraden mitgeben, die aus Krankheitsgründen sehr bald entlassen werden würden. Aber auch so würde es günstigstenfalls mehrere Wochen dauern, bis Victor Gollancz das Manuskript in die Hand bekam.
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Es mußte sofort etwas geschehen.

Nun, ich hatte ja noch meine Schreibmaschine. Ich besorgte dünnstes Durchschlagpapier in großen Mengen, und flugs halfen mir meine Freunde, in schichtweiser Arbeit, das ganze Manuskript mit etwa sieben oder acht Durchschlägen abzutippen.

Inzwischen kaufte ich von einem unserer Kunstgewerbler - denn die Töpferei diente mehreren Lagerinsassen als Zeitvertreib - eine große Blumenvase und bestellte eine zweite mit einer Lieferfrist von drei Tagen. Die Lagerbehörde, so meinte ich mit meinen Mitverschwörern, würde gewiß keinen Argwohn hegen, wenn ich meiner Frau und Victor Gollancz' Sekretärin je eine unserer hübschen Blumenvasen schickte.

  • Anmerkung : Hier erwähnt Heinrich Fraenkel in seiner Biografie zum ersten Male, daß er in 1940 bereits verheiratet war.

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Wir waren sehr umsichtige Verschwörer

Und einer von uns arbeitete glücklicherweise im Lagerpostamt und konnte die eng zusammengerollten Manuskripte in die Vasen schmuggeln, während der aufsichtführende Offizier, von einem anderen Mitverschwörer im entscheidenden Moment angesprochen, sich zu ihm umdrehte.

Vier oder fünf andere Durchschläge des Manuskripts schmuggelten wir auf verschiedenen abenteuerlichen Wegen aus dem Lager, und als das alles erledigt war, kam ein Telegramm von Gollancz, worin er mir die prompte Ankunft des vom Kommandanten expedierten Manuskriptes bestätigte und erklärte, ich solle mir um die Korrekturleserei keine Sorgen machen, das würde im Verlag erledigt.
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Auch dem Verlger hatte die Konspiration sichtlich Spaß gemacht

Als ich einige Monate später entlassen wurde und bei Victor Gollancz Besuch machte, erzählte er mir schmunzelnd, daß, als das Buch schon längst im Umbruch war, immer noch alle paar Tage meine Manuskripte eintrafen.

Es war nun eben ein etwas seltsamer Buchauftrag, und wie seltsam er war, kann man nur ermessen, wenn man sich den umgekehrten Fall vorstellt, daß ein in Deutschland während eines Krieges internierter Engländer von einem deutschen Verlag einen Buchauftrag bekommen hätte, mit der Ermunterung, nur ja recht ungeniert die deutsche Regierung anzugreifen.

Und daß ihm dann vom deutschen Lagerkommandanten die durch Vermittlung des Auswärtigen Amts besorgten neuesten Nummern der Daily Mail und sonstiger deutschfeindlicher Literatur zur Verfügung gestellt würden.

Eine wahrhaft absurde Vorstellung. Aber auch sonst wäre so etwas wohl in keinem Lande der Welt außer in England möglich, und eben deshalb war mir auch dieser Buchauftrag ein für meine Erkenntnis Englands und der Engländer sehr lehrreiches Erlebnis.
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Es gab noch weitere wichtige Erkenntnisse im Lager

Nicht minder lehrreich war mein Aufenthalt in jenem Internierungslager für die Erkenntnis meiner eigenen Landsleute und unserer politischen Probleme.

Ich hätte mir keinen besseren Platz aussuchen können, um Victor Gollancz' Buchauftrag zu erfüllen. Denn die ca. 100 politischen Emigranten, die sich (abgesehen von etwa 1.000 Wirtschaftsemigranten) in unserem Lager befanden, repräsentierten einen sehr guten Querschnitt durch diejenigen Schichten des deutschen Volkes, die mit dem herrschenden Regime nicht einverstanden waren.

Wir hatten Männer unter uns, die jahrelang im illegalen Kampf gegen das Regime gestanden, und andere, die lange im KZ gewesen und nach ihrer Entlassung illegal über die Grenze gegangen waren; wir hatten Spanienkämpfer, die sich später im französischen KZ dem Zugriff der Gestapo entzogen und ihre Flucht nach England entweder über Lissabon oder mit Hilfe britischer Matrosen aus dem brennenden Dünkirchen bewerkstelligt hatten.

Wir hatten ein paar ehemalige Gewerkschaftsfunktionäre, die aus der norwegischen Emigration vor der im Gefolge der Wehrmacht anrückenden Gestapo geflohen waren, und wir hatten andere politische Flüchtlinge, die unmittelbar vor dem deutschen Einmarsch aus Prag entkommen waren, sei es in langen Fußmärschen durch Polen, sei es mit Hilfe einiger schnell improvisierter britischer Komitees, die damals dafür gesorgt hatten, daß die am meisten gefährdeten deutschen Flüchtlinge ausgeflogen wurden.
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Wir hatten einen Pastor im Lager und auch einen Priester

Wir hatten einen Pastor (aus dem Niemöllerkreis) im Lager und einen katholischen Priester, der sich ebenfalls nur auf recht abenteuerliche Art den Verfolgungen des Regimes entziehen konnte; wir hatten eine ganze Menge Professoren und andere Wissenschaftler, die durchaus nicht alle aus »rassischen« Gründen emigriert waren; wir hatten auch manchen anderen »Gesinnungsemigranten«, wie z. B. einen aus uraltem schlesischem Adelsgeschlecht stammenden Dichter, der täglich viele Stunden lang an der Stacheldrahtgrenze unseres Lagerhofs entlang spazierte, meistens im ernsten Gespräch mit einem schlesischen Kumpel, der vor nicht allzu langer Zeit in einem der Bergwerke gearbeitet hatte, die der Familie des Grafen gehörten.

Nur etwas über die Hälfte der etwa 100 »Politischen« in unserem Lager waren parteipolitisch organisiert, die meisten natürlich in der SPD; aber es waren auch ein paar Mitglieder der Neu-Beginnen-Gruppe da (die sich erst ein Jahr später der SPD anschloß).
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Ich durfte sie alle "zur Lage" befragen

Von beiden Parteien und natürlich auch von der KPD - also von allen parteipolitisch organisierten Gruppen, die in klarer Opposition zum Nationalsozialismus standen und damals vom herrschenden Regime unterdrückt und verfolgt wurden - besorgte ich für mein kleines Gollancz-Buch eine offizielle Erklärung zur Lage und eine Stellungnahme zu zwei präzisen Fragen:

Inwieweit sie bereit wären, sich der technischen Hilfe der Alliierten zu bedienen, um den Widerstands-Bewegungen innerhalb Deutschlands praktische Hilfe zu leisten; und ob sie eine solche Hilfeleistung von einer feierlichen und verbindlichen Erklärung abhängig machten, daß der Krieg mit der Vernichtung des Hitler-Regimes sein Endziel erreicht haben würde und keineswegs irgendwelchen Eroberungsplänen dienen solle, die gegen Deutschland und das deutsche Volk gerichtet seien.
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Und überall mussten die Vorstände der Parteien "nicken"

Von der SPD und der Neu-Beginnen-Gruppe war eine solche offizielle Erklärung leicht zu erreichen. Die im Lager anwesenden Funktionäre machten ihren Entwurf, schickten ihn an ihren Parteivorstand nach London - denn sowohl Ollenhauer und Heine wie auch Sering (die führende Persönlichkeit der damals noch unabhängigen Neu-Beginnen-Gruppe) waren nicht interniert - und bekamen die endgültig revidierte Fassung zwei oder drei Wochen später zurück.

Erheblich schwieriger war die Sache bei den Kommunisten, von denen wir zwar bestimmt über ein Dutzend Parteimitglieder im Lager hatten und mindestens ein weiteres Dutzend von »Mitläufern«, aber nur zwei, denen bei aller »konspirativen Taktik« nichts anderes übrigblieb, als sich offiziell zu ihrer Partei zu bekennen. Der eine war Hugo Graf, ein ehemaliger Reichstagsabgeordneter, und der andere ein alter Berliner Parteifunktionär, der von 1933 bis 1938 im KZ gesessen hatte, nach seiner Entlassung über die tschechische Grenze entkommen war und am Tage vor dem deutschen Einmarsch in Prag von einem der britischen Hilfskomitees ausgeflogen worden war.
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Die beiden »offiziellen« KPD-Mitglieder mußten in stundenlangen Sitzungen über jedem Komma und Semikolon brüten

Nur mit diesen beiden »offiziellen« KPD-Mitgliedern hatte ich es zu tun, aber ich wußte natürlich, daß sie mit ihren heimlichen Parteigenossen tagtäglich in stundenlangen Sitzungen über jedem Komma und Semikolon des Entwurfs brüteten, der schließlich zwecks endgültiger Redaktion zu den höheren Parteistellen in London ging.

Jedenfalls bekam ich die endgültige Fassung erst vier oder fünf Wochen nach der SPD-Erklärung, als ich dem Manuskript schon die letzte Feile gegeben hatte und die Absendung an den Verlag keinen Tag länger verzögern konnte.

Allerdings ist nicht zu leugnen, daß es für die KPD in ihrer damaligen Lage keineswegs leicht war, die von mir gewünschte Erklärung zu formulieren. Wir befanden uns ja noch im Spätsommer des Jahres 1940, der Angriff auf die UdSSR stand noch bevor, der Krieg war also noch »imperialistisch«; andererseits hatte ich ja eben jenem Argument des »imperialistischen Krieges« mit meiner Zusatzfrage die Spitze abgebrochen.

Ich wußte, daß ich damit eine Frage gestellt hatte, deren Beantwortung die KPD-Führung sich nicht entziehen konnte; und schließlich bekam ich auch meine Antwort, und zwar ziemlich genau so gewunden und verklausuliert, wie ich sie mir vorgestellt hatte *).

*) Der Wortlaut der drei Erklärungen ist im Anhang zu finden (S. 223)
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Noch ein Buch "The Winning of the Peace"

Als neun Monate später der Angriff gegen die UdSSR erfolgte, war ich schon längst wieder in Freiheit und schrieb bald darauf für Victor Gollancz ein Buch unter dem Titel "The Winning of the Peace".

Daß der Krieg früher oder später gewonnen und mit der Vernichtung des Hitler-Regimes enden würde, war mir schon damals unzweifelhaft; um so wichtiger schien es mir, sich jetzt schon zu überlegen, wie dann der Gewinn des Friedens zu bewerkstelligen sei.
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"Nur" die Deutschlandpolitik meines Gastlandes kritisieren

Da aber eine solche Überlegung unter den damaligen Umständen unvermeidlicherweise einige scharfe Kritik an der Regierung des Landes bedingte, das mir Asylrecht gewährte, und da ich mich nur für berechtigt hielt, die Deutschlandpolitik meines Gastlandes zu kritisieren, nicht aber seine Innenpolitik, so sagte ich Victor Gollancz, daß ich für dieses Buch einen britischen Mitarbeiter brauchte, der in einem Nachwort diejenigen kritischen Äußerungen vertrat, die mir selbst nicht zukamen.

Das Nachwort schrieb Sir Richard Acland, der gerade aus der Liberal Party und dem nach hundertjähriger Familientradition vertretenen Wahlkreis zur Labour Party übergetreten war, freilich in einem vom Schloß seiner Väter weit entfernten Wahlkreis.

Acland hatte übrigens seiner neugewonnenen politischen Überzeugung - einem sehr christlich betonten Sozialismus - auch dadurch Ausdruck verliehen, daß er auf seinen ererbten Millionenbesitz zugunsten des Staates verzichtete und für sich und seine Familie nur ein paar Zimmer im väterlichen Schloß und im Londoner Stadthaus behielt, sowie gerade genug Geld, um sich sorgenlos seiner politischen und schriftstellerischen Arbeit widmen zu können.
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Die maßgebenden Politiker scheinen es leider übersehen zu haben

Unser gemeinsames Buch über den Gewinn des Friedens wurde von der Presse und dem Lesepublikum freundlich aufgenommen; aber die einige Jahre später in Europa, Asien und Amerika maßgebenden Politiker scheinen es leider übersehen zu haben, denn sie haben in den Jahren nach 1945 so ziemlich keinen der Fehler ausgelassen, vor denen wir in dem kleinen Buch gewarnt hatten.

Vor dieser gemeinschaftlichen Arbeit hatte ich eine Broschüre geschrieben, die in diesem Rechenschaftsbericht über meinen Nationalitätswechsel deshalb erwähnt werden muß, weil sie (oder vielmehr ihre Nachwirkung) meine Haltung zu England und den Engländern wesentlich beeinflußt hat.

Und dann noch eine sehr polemische kleine Broschüre

Es handelte sich um eine sehr polemische kleine Broschüre, die von der "Fabian Society" in Auftrag gegeben war, also jener von Shaw, Wells und dem Ehepaar Webb gegründeten politisch-literarischen Gesellschaft, die heute noch gewissermaßen als die Gehirnzelle der Labour-Partei gilt, regelmäßig Vorträge und Kurse organisiert, sozialwissenschaftliche und politische Untersuchungen anregt und sie dann regelmäßig in Broschürenform veröffentlicht.

Meine Broschüre war unter dem Titel "Vansittart's gift for Goebbels*), wörtlich übersetzt "Vansittarts Gabe für Goebbels", als die Antwort eines deutschen Nazigegners auf Vansittarts Theorien angekündigt, insbesondere auf seine letzte Serie von Rundfunkvorträgen, die, in Broschürenform zusammengefaßt, sehr viel Aufsehen erregt hatten.

*) Eine Titelthese, deren Richtigkeit kurz darauf von Goebbels selbst bestätigt wurde. Daß Vansittart für ihn eine Gabe des Himmels sei, hat der Propagandaminister ja oft genug erklärt, und er hat einmal sogar behauptet, Vansittarts Hetzschriften seien für sein Ministerium mindestens so wertvoll wie zehn Divisionen für die Wehrmacht.
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Vansittarts Theorien und Thesen

In den Broschüren und Vorträgen wurde aufs schärfste die These der Gesamtschuld des deutschen Volkes vertreten, die Schuld dieses »räuberischen Volkes« nicht nur an Hitler und den Untaten der Gestapo, sondern auch an so ziemlich sämtlichen Kalamitäten der Weltgeschichte bis zurück zu den alten Cimbern und Teutonen und der Schlacht von Adrianopel, als (im Jahre 378) »deutsche Barbarei zum erstenmal die Zivilisation der Romanen zerstörte«.

Vansittarts historische Irrtümer und Entstellungen waren leicht genug zu ironisieren und zu widerlegen; schwieriger und erheblich wichtiger war es, in meiner Antwort den glaubhaften und überzeugenden Gegenbeweis der These zu führen, Hitler habe die überwiegende Mehrheit des Volkes für sich begeistert.
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Vansittart war ein hervorragender Redner und Demagoge

Glaubhaftes Material hatte ich ja für meine Gegenthese in Hülle und Fülle, aber um damit die Massen zu überzeugen, die Vansittart gehört und gelesen hatten, mußte ich ein doppeltes Handicap überwinden; er war ein hervorragender Redner und Schriftsteller und hatte, dank seiner hohen Funktionen im Außenamt und im Diplomatischen Dienst, einen großen Ruf als Außenpolitiker und insbesondere als Deutschlandkenner.

Um so bemerkenswerter und erfreulicher war die Feststellung, daß auch die »anti-vansittartsche« Meinung selbst im dritten und vierten Kriegsjahr noch in der englischen Öffentlichkeit auf lebhaftes Interesse rechnen konnte.
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Aus 2.000 Exemplaren wurden 25.000 oder 30.000

Zu mancherlei Anzeichen, die es dafür gab, lieferte der Absatz meiner kleinen Broschüre einen zusätzlichen Beweis, eben wegen der ungewöhnlichen Umstände, unter denen, aus rein technischen Gründen, dieser Vertrieb vor sich ging.

Das kleine Büro der "Fabian Society" war natürlich auf einen Massenabsatz ihrer Broschüren gar nicht eingerichtet. Üblicherweise wurden (und werden) von diesen "Fabian Tracts" etwa 2.000 gedruckt, die an die Mitglieder der Gesellschaft sowie an sämtliche Parlamentarier und einige Universitäten, Bibliotheken und öffentliche Dienststellen zur Verteilung gelangen; die paar hundert übrigbleibenden Exemplare werden dann bei den von der Gesellschaft veranstalteten Vorträgen verkauft.

Nun waren, in Anbetracht des aktuellen Themas, von der Broschüre "Vansittart's gift for Goebbels" gleich 5.000 gedruckt worden; und als die in wenigen Tagen ausverkauft waren, hat dann die Gesellschaft - buchstäblich bis über die Grenze ihrer knappen Papierzuteilungsquote - noch weitere 25.000 oder 30.000 gedruckt.
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Die Broschüre wurde sogar nur gegen Bares ausgeliefert

Da sie ja keine Verlagsorganisation hatte, spielte sich der Verkauf in der Form ab, daß die Buchhandlungen, um ihrer regelmäßigen Kundschaft gefällig zu sein, einen Boten mit Bargeld ins Büro der Fabian Society schickten, wo ihm zum Ladenpreis von zwei Pence (ca. 15 Pfennige) jeweils ein paar Dutzend Exemplare verkauft wurden, die dann die Buchhandlung profitlos an ihre Kundschaft weiterreichte.

Als das Papier für weitere Auflagen ausging, wurden die Sortimentsquoten auf zehn oder zwanzig Exemplare »rationiert«. Ich würde es sehr begreiflich finden, wenn die mit soviel ungewohntem »Außendienst« überlastete Sekretärin in der Versandabteilung der Fabian Society mich in jenen Wochen nicht minder verflucht hat wie die Herren Vansittart und Goebbels.

Kurz darauf wurde übrigens dem aus dem Staatsdienst ausgeschiedenen Sir Robert Vansittart die Pairswürde (politisch privilegierte Hochadelige) verliehen, und er hat dann im House of Lords nicht minder vehement als in der Presse seine Thesen vertreten.
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