Sie sind hier : Startseite →  Historie und Geschichte→  Über die "Wahrheit"→  Bücher zum Lesen - erstaunlich→  von-Studnitz-Tagebuch→  von-Studnitz-Tagebuch-18

Tagesaktuelle Gedanken - Aufzeichnungen von 1943 bis 1945

Dieses Kriegs-Tagebuch gibt uns einen sehr nachdenklichen Eindruck von dem, das in den oberen Sphären der Politik und der Diplomatie gedacht wurde und bekannt war. In ganz vielen eupho- rischen Fernseh-Büchern, die bei uns vorliegen, wird das Fernsehen ab 1936 in den Mittelpunkt des Weltinteresses gestellt - und hier kommt es überhaupt nicht vor. Auch das Magnetophon kommt hier nicht vor. Alleine vom Radio wird öfter gesprochen. In den damaligen diplomatischen und höchsten politischen Kreisen hatten ganz andere Tagesthemen Vorrang. Und das kann man hier sehr authentisch nachlesen. Im übrigen ist es sehr ähnlich zu den wöchentlichen Berichten des Dr. Wagenführ in seinen Fernseh Informationen.

Diese Aufzeichnungen hier sind aber 1963 - also 20 Jahre danach - getextet worden und wir wissen nicht, ob einzelne Absätze nicht doch etwas aufgehübscht wurden. Auch wurde das Buch 1963 für die alte (Kriegs-) Generation geschrieben, die das alles noch erlebt hatte.

.

Seite 189 - Feldquartiere wie im 17. und 18. Jahrhundert

Die übrigen Feldquartiere sind ähnlich aufgezogen. Sie erinnern an die Hoffeldlager im 17. und 18. Jahrhundert, wo Fürsten und Hof den kämpfenden Armeen folgten, während die Residenzen verwaist blieben. Bei den Lehndorffs bewohnt der RAM einen Flügel des Schlosses, während die Familie des Besitzers den anderen innehat.

Das Schloß, ein altes Haus mit schönen Familienbildern und mächtigen Barockschränken, ist entsprechend »adaptiert« worden, wobei sich die vom Protokoll zur Verfügung gestellten Einrichtungsgegenstände in dieser Umgebung ziemlich fremd ausnahmen.

Der Rittersaal wurde mit klobigen rotgelben Empiremöbeln aus der polnischen Botschaft in Berlin und einem schönen Louis-Seize-Kronleuchter auf Glanz gebracht. Im Arbeitszimmer des RAM steht ein Schreibtisch, vor dem zwei Ledersessel für Besucher aufgebaut sind. Über einem modernen Sofa hängt ein Ölgemälde, Friedrich den Großen darstellend. In der Dienststelle frühstückte ich mit Altenburg und besuchte dann Megerle, der mit einer Herzneurose zu Bett lag.

Auch für einen Hofnarren ist gesorgt.

Y. spielt ihn und gibt sich durchgedrehter denn je. Im Laufe weniger Minuten behauptet er, der bekannte Nachtjäger Wittgenstein sei sein Vetter, der Großvater habe alle Schinkelbauten errichtet und Schinkel nur den Namen dazu gegeben. Er selbst will jetzt den Kapp-Putsch organisiert haben. Sein orientalisches Aussehen führt er neuerdings auf die Dogen von Venedig zurück, von denen er abstammen will!

Langes und im Grunde sinnloses Gespräch

Langes und im Grunde sinnloses Gespräch über die "Deutsche Diplomatische Korrespondenz" mit Gauss, einem ebenso gescheiten wie müden alten Mann, der sich der Ansicht anzuschließen pflegt, die ihm gerade vorgetragen wird.

Nach dem Essen, aus hartem Gulasch und obskurem Pudding - Kunsthonig und Blümchenkaffee sind eine andere Spezialität des Feldquartiers - führte mich Kutscher zu einem in der Nähe gelegenen Heldenfriedhof.

Auf dem Rückweg begegneten wir im tiefen Wald einem General, der in vollem Lametta, einem Brunfthirsch ähnlich, über eine Lichtung wechselte, bei unserem Anblick gnädig nickte und flüchtig wurde!

Gutes Essen und Alkohol und Grammophonplatten

Abends speisten wir Hasenbraten in einem Restaurant, das von OKH-Offizieren frequentiert wird. Anschließend fand im Zimmer von Herwarth ein Budenzauber statt. Legationssekretäre und Schreibdamen brachten Alkohol und Grammophonplatten mit.

Am nächsten Tag fuhren wir mit Schmidt und Strempel um 13 Uhr zum RAM, bei dem wir bis gegen halb vier Uhr antichambrieren mußten, bis Schmidt allein vorgelassen und zu Tisch behalten wurde, während wir mit den Räten und Adjutanten aßen.

Um 17 Uhr, als ich mit Altenburg im strömenden Regen Spazierengehen wollte, wurde ich zum Minister gerufen. Die in konzilianten Formen geführte Unterhaltung betraf eine Note an Spanien, die ich ausgearbeitet hatte. Ferner kamen der Südosten, England und die Invasion zur Sprache.

Immer und um jeden Preis an den alten Kompetenzen festhalten

In der Sache, die mich hergeführt hatte, die »Diplo« aus der Kontrolle des Ministers zu lösen, kam ich keinen Schritt weiter.

Der RAM wollte sein Recht zu Korrekturen nicht aufgeben und war nicht zu überzeugen, daß eine »Diplo« eine offiziöse Stellungnahme darstellt, mit der sich das Auswärtige Amt identifizieren kann, aber nicht muß.

Wie bei Hofe verwarteten wir im Feldquartier viele Stunden. Sie wurden zu Gesprächen mit der Umgebung des RAM und seinem Verbindungsmann zum Führer, Botschafter Hewel, genutzt.

Plötzlicher Abbruch der Beziehungen zu Argentinien

Über den Abbruch der Beziehungen zu Argentinien bemerkte Ribbentrop, die Abwehr habe uns die Sache eingebrockt. Sie sei den Engländern ins Netz gegangen, die das entsprechende Material sammelten und im Einvernehmen mit den USA der argentinischen Regierung in einer Form präsentierten, die Buenos Aires keine andere Wahl ließe, als mit uns zu brechen.

Als ich letzten Dienstag Luti, den argentinischen Geschäftsträger in Berlin, anrief, wußte er noch nichts. Er und seine Frau Crucita sind sehr deutschfreundlich. Wie überraschend der Abbruch der Beziehungen kam, geht unter anderem daraus hervor, daß der hiesige argentinische Generalkonsul nur eine Woche vorher nach zweijährigem Heimaturlaub mit Frau, Kindern und Dienstboten nach Deutschland zurückgekehrt war.

Gedanken über die Erscheinung Ribbentrops

Auf der Heimfahrt von Ostpreußen habe ich lange über die Erscheinung Ribbentrops nachgedacht. Wo soll man sie einordnen?

Unter die Parteiführer oder unter die Leute des ancien regime, die sich mit der Diktatur arrangiert haben? Unter die Wirtschaftler, die mit dem Dritten Reich Geschäfte machen? Ist Ribbentrop ein Glücksritter?

Wenn ja, welchem Glück »jagt dieser so unglücklich und gehemmt wirkende Mann nach?

Aus guter bürgerlicher Familie, von einer adligen Tante adoptiert, durch seine Heirat mit Anneliese Henkell wirtschaftlich unabhängig, zählt Ribbentrop zu einer Schicht, der Weltkrieg und Inflation nicht viel hatten anhaben können.

Im Besitz eines schönen mit modernen Bildern und guten Möbeln ausgestatteten Hauses in Dahlem, führte er an der Seite einer kultivierten Frau ein elegantes Leben.

Was brachte ihn zu Hitler? Persönliche Verbitterung oder der Wunsch, sein Los zu verbessern, waren es jedenfalls nicht. Eigener oder der Ehrgeiz seiner Frau? Zweifellos fühlte sich Ribbentrop von Hitler persönlich stark angezogen.

Die Ribbentrops galten im Berlin der späten zwanziger Jahre als aufgeschlossene Leute. Sie gerieten an Hitler wie an einen modernen Maler. Andererseits erschien Ribbentrop Hitler als die Verkörperung eines Typus, der ihm bis dahin in Deutschland kaum begegnet war. Er sah in ihm einen Weltmann mit Allüren, die die Nazis nicht beherrschten, eine Figur, von der er glaubte, sie könne ihm wegen ihrer Verbindungen nützlich sein.

Hitler und Ribbentrop haben sich ineinander getäuscht

Heute (Jan 1944) wissen beide, daß sie sich ineinander getäuscht haben. Aber die Beziehung, die aus ihrem tragischen Mißverständnis erwuchs, erwies sich nichtsdestoweniger als dauerhaft.

Etwas anderes kommt hinzu. Man mag über Ribbentrops geistige Fähigkeiten - seine Auffassungsgabe, seinen Sinn für Zusammenhänge, seine Reaktionen - denken wie man will, etwas wurde ihm gegeben: er versteht es wie kein zweiter, Hitler zu nehmen.

Beim politischen Gedankenaustausch fühlt sich Hitler durch Ribbentrop sofort verstanden. Im Dialog weiß Ribbentrop Formulierungen zu finden, die bei Hitler gerade erst Gestalt annehmen. Zumindest ist dies der Eindruck von Hewel, Schmidt, Likus und anderen, die sich eine Meinung über das Verhältnis zwischen Führer und RAM haben bilden können.

Ribbentrops größtes Handikap als Außenminister besteht darin, daß er sich als Egozentriker mit der Mentalität anderer Völker nicht vertraut gemacht hat. Seine Vorstellungen von außenpolitischen Gegebenheiten sind phantastisch. Vielleicht glaubt er auch, auf Grund seiner Stellung überbetonen zu müssen, was ihm am meisten fehlt, Zuversicht.

Die Unsicherheit, die von Ribbentrop ausgeht, ist nur aus der Diskrepanz zwischen dem Wunschdenken dieses Mannes und der Wirklichkeit zu erklären, mit der er sich Tag für Tag auseinandersetzen muß.

Ribbentrops hervorstechendste Eigenschaft

Als Ribbentrops hervorstechendste Eigenschaft wird seine Arroganz bezeichnet, ein Gemisch aus Hochfahrenheit und Verschlossenheit, das den Kontakt mit ihm erschwert. Der Minister hat - sieht man von Steengracht und Doernberg ab - im Amt keine Freunde.

Für die alten Beamten bleibt er ein Außenseiter, den sie nicht akzeptieren. Die Nazis mißtrauen ihm als einem Herrn »von«, dessen Beziehung zu Hitler ihnen unheimlich bleibt.

So hat sich ein Vertrauensverhältnis zwischen Ribbentrop und seinen Mitarbeitern nicht herausbilden können. Zwar gehorchen ihm alle. Die alten Beamten wie jedem, der sie scharf anfaßt.

Sie haben den großen Bismarck ertragen und sich vor seinem heftigen Sohn Herbert geduckt. Sie rechnen damit, auch Ribbentrop zu überdauern. Die Nazis parieren ihm, weil er die gleiche Uniform wie sie trägt. So umgibt diesen Minister Duckmäuserei.

Nur wenige sind von Ribbentrop unbeeindruckt

Schmidt bildet eine der wenigen Ausnahmen. Ribbentrops Temperamentsausbrüche beeindrucken ihn nicht. Er läßt ihn am Telephon minutenlange Monologe halten, übergibt die Sprechmuschel an andere, geht an seinen Zigarrenschrank, zündet sich eine Brasil an, nimmt den Hörer wieder auf und fragt: »Sind Sie noch da, Herr Reichsminister, ich höre Sie kaum.« Andere erheben sich an ihren Schreibtischen, wenn Ribbentrop anruft.

Sieburg hat einmal gesagt, mit Ribbentrop zu verhandeln sei, wie mit einer Kobra zu ringen. Das mag sein.

Die Auffassungsgabe der RAM scheint langsam zu sein

Mich irritierte vielmehr die Langsamkeit, mit der Ribbentrop den Inhalt der Schriftstücke aufnahm, die ich ihm vorlegte.

Er las sie wie ein Kind von oben nach unten und von unten nach oben, was mehr Zeit beanspruchte, als ich zur Abfassung benötigt hatte. Vielleicht war es auch nur das Bedachtsein auf Würde, das ihn so verfahren ließ.

Am Ende aber faßte er keinen Entschluß, sondern entschied: »Ich muß das alles noch mal mit Gauss durchsprechen!« Eine Episode, typisch für Ribbentrops Vorgehen, das zwischen übereilten, bereuten und wieder verworfenen Entscheidungen und dem Unvermögen, überhaupt zu einem Entschluß zu gelangen, schwankt.

Seine Forschheit wie sein Zaudern begleitet die ständige Furcht, wie der Führer reagieren wird.

Was seine »Sturheit« angeht, so habe ich nicht herausfinden können, ob sie auf Mangel an Intelligenz, Hilflosigkeit oder der Furcht beruht, für wankelmütig zu gelten. Möglicherweise ist sie nur einen Pose. Man darf nicht übersehen, daß »Sturheit«, bei den Nationalsozialisten ein Positivum bedeutet, mit Willensstärke gleichgesetzt wird und den Rang einer »Führer«-Tugend hat.

Auch wird man Ribbentrop zugute halten müssen, daß er weder zu den Revolutionären der Kampfzeit zählt, noch eine Kraftnatur sui generis ist, wie so viele der zu hohen Ämtern gelangten Rabauken.

Es fällt ihm daher schwerer, sich in der Gesellschaft zu behaupten, in die er sich begeben hat und die ihm eines der höchsten Staatsämter anvertraut hat. Schmidts Position bei Ribbentrop beruht darauf, daß er in der Sache hart bleibt und nicht daran denkt, dem RAM nachzugeben, weil er sein Chef ist.

Es spricht nicht gegen Ribbentrops Charakter, daß er einem solchen Untergebenen - den er übrigens selbst entdeckt hat - eine Ausnahmestellung zuerkennt.

Der Krieg und alles, was dazu gehört, überfordern Ribbentrop täglich.

Weit davon entfernt, der Mann aus Eisen zu sein, für den er sich gibt, verraten seine früh gealterten Züge, daß er leidet.

Der Außenminister hat alles auf eine Karte gesetzt: Hitler. Ein Stirnrunzeln aus dem Führerhauptquartier bringt Welten in ihm zum Einsturz. Am schlimmsten ist Ribbentrops Verfassung, wenn er längere Zeit bei Hitler nicht vorgelassen wird. Das Damoklesschwert der Ungnade schwebt über ihm wie über allen »Paladinen«. Aber seine Haut ist dünner als die der anderen.

Dienstag, den 1. Februar 1944 - Hoffen auf klare Mondnächte

In Neu-Westend fand ich mein Bett von einer Mörtel- und Kalkschicht bedeckt, die der Luftdruck am Württemberger Platz niedergegangener Bomben ins Zimmer geblasen hat. Wir hoffen ab übermorgen wegen des späten Monduntergangs zehn Tage Ruhe zu haben.

Fünf Tage vor und drei Tage nach Vollmond erfolgt gewöhnlich kein Angriff. Der Mond, der einmal gefürchtet wurde, ist heute unser bester Freund. So vollkommen hat sich die Taktik des Luftkrieges geändert.

Früher wurde nur bei klarem Licht bombardiert, heute bevorzugen die Bomber schlechtes Wetter, weil dies die Abwehr mehr behindert als den Angreifer.

Wittgenstein ist nach seinem 83. Luftsieg gefallen. Seine Maschine stürzte fünfzig Meter vor dem Schloß Groß Wudicke ab, das der Schweizer Gesandtschaft als Ausweichquartier dient. Bordfunker und Heckschütze sprangen im Fallschirm ab, während sich der offenbar verwundete Prinz nicht mehr aus dem Cockpit befreien konnte.

Samstag, den 5. Februar 1944 - Wieder wird nichts entschieden

Mein Vorschlag, über die russische Verfassungsreform eine »Diplo« herauszugeben, wurde von mir am 1. Februar vormittags an Raykowski zwecks Einholung der Genehmigung des RAM durchgegeben. Bis Mittwoch, den 2. Februar abends hatte sich der Minister noch nicht entschieden. In der gleichen Nacht kam eine Führerweisung heraus, die russische Verfassungsreform in der Presse aufzugreifen.

Am 3. Februar um elf Uhr früh forderte mich der RAM telephonisch auf, eine »Diplo« zu schreiben. Mein Entwurf wurde von ihm am 3. Februar nachts gebilligt, aber zurückgehalten und am 4. Februar abends wieder verworfen. Am 5. Februar morgens kam der Text einer neuen von Dr. Megerle verfaßten und vom RAM genehmigten »Diplo« durch, die mittags der Presse übergeben wurde und nicht einen einzigen Gesichtspunkt enthielt, den die Presse nicht schon seit fünf Tagen abgewandelt hätte.

Eine schweizer Zeitung bestätigt meine Vorstellungen

Bemerkenswert ist ein Kommentar der »Suisse«: »Wenn Deutschland am 22. Juni 1941 seinen Feldzug gegen die Sowjets begann, um den Bolschewismus zu stürzen, so mußte es wenigstens die nichtrussischen Völker auf seine Seite bringen; es wäre wahrscheinlich leicht gewesen, sie von Moskau loszulösen, wenn man ihnen für den Fall des Sieges die Unabhängigkeit zusicherte.

Statt dessen hat Deutschland sofort seinen Plan enthüllt, diese Ostgebiete auf eigene Rechnung zu regieren und auszubeuten, so daß es sich für diese nichtrussischen Völker nicht mehr darum handelte, von der Bevormundung durch Moskau frei zu werden, sondern nur noch, die Fremdherrschaft zu wechseln.

Die russische Propaganda hat diese Fehler der deutschen Politiker ausgenutzt, und die deutsche Wehrmacht erschien allen Völkern der Union nicht mehr als ein möglicher Befreier, sondern als der Eroberer, der zurückgeschlagen werden müsse.

Die Macht der Moskauer Regierung über die Gesamtheit der Völker ist nicht erschüttert, sondern im Gegenteil gestärkt worden. Ihre Autorität ist jetzt so groß, daß sie, ohne eine Machtzersplitterung befürchten zu müssen, den Gliederrepubliken der Union eine gewisse Autonomie gewähren kann. Daß diese Autonomie mehr Schein als Wirklichkeit ist, macht nichts aus.

Die Maßnahme ist nichtsdestoweniger dazu angetan, der Moskauer Regierung bei der Erreichung ihres doppelten Zieles zu helfen: Förderung des Anschlusses neuer Republiken an die Sowjetunion und Steigerung des Einflusses in der Weltpolitik.«

Dienstag, den 15. Februar 1944 - Tolle Stimmung in Wien

Fünf Tage in Wien, die wie ein Märchen anmuten. Die Stadt wird von einer Stimmung getragen, wie ich sie seit Jahren nicht erlebt habe. Kein Mensch spricht vom Krieg. Gäste aus Böhmen-Mähren und Ungarn bevölkern die großen Hotels und überhäufen sich mit Einladungen.

Ungarische Grafen, die aus der Puszta in Holzgaswagen angefahren kommen, bringen außer den Lebensmitteln für ihre Diners, ihren eigenen Hafer mit, um sich in Wien in einem Fiaker fahren zu lassen, für den sie 100,- RM Miete am Tag zahlen.

Das Straßenbild ist eleganter geworden, das reichsdeutsche Element, das noch vor einem halben Jahr dominierte, an die Wand gedrückt. Die Eroberung Wiens durch die Preußen endet wie die Eroberung Chinas durch die Japaner. Die Eroberer assimilieren sich. Ihr einziger Ehrgeiz besteht darin, für Einheimische gehalten zu werden.

Die Wiener glauben, sie werden von den Bomben verschont

Die Wiener sind überzeugt, nicht bombardiert zu werden. Die Kunsthändler beschweren sich über den Reichsstatthalter, der von ihnen verlangt hat, ihre Kostbarkeiten aufs Land zu schaffen.

Die Partei hat mitteilen lassen, daß nur Trottel oder Verräter den Gerüchten über die Schonung Wiens Glauben schenken, eine Warnung, die den Einwohnern nicht den geringsten Eindruck macht. Bis 23 Uhr bleibt alles erleuchtet.

Verglichen mit früher sind die Geschäfte leer, verglichen mit Berlin sind sie voll. Die Antiquare verdienen Unsummen. In der Siebensterngasse sah ich ein Bild »Die Auffindung des Moses« von Poussin, das vor zwei Jahren mit 10.000,- RM ausgezeichnet war und jetzt das Doppelte kosten soll.

Die Theater sind ausverkauft. Politisch lebt man seinen eigenen Stil. So hielt Karl Anton Rohan im Gebäude der Allianz einen Vortrag über »Die Zukunft Europas«, eine eigenwillige Deutung der Zeit, an den sich ein Bierabend in einem Gefolgschaftsheim schloß, das wie ein Weinrestaurant ausgestattet war. Selbst im vierten Kriegsjahr finden zweimal in der Woche Vorführungen der Spanischen Hofreitschule statt, auf denen man viele Bekannte trifft.

Ein Traumhochzeit in Wien mitten im Krieg

Auf der Hochzeit von Arthur Strachwitz mit Sissi Liechtenstein, die letzten Samstag im Liechtensteinpalais in der Bankgasse gehalten wurde, erschien ein rundes Dutzend Liechtensteinscher Prinzessinnen in Nerzmänteln und Wiener Imitationen Pariser Hüte, allen voran Maritza Liechtenstein, eine temperamentvolle Ungarin, die oft wochenlang nach Berlin kommt, um dort an den letzten Zuckungen gesellschaftlichen Lebens teilzunehmen. - Am Abend der Hochzeit starb die erzherzogliche Großmutter der Braut.

Donnerstag, den 17. Februar 1944 - 3300 Tonnen Bomben auf Berlin

Heute nacht warfen die Engländer nach ihren eigenen Angaben 3.300 Tonnen Bomben auf Berlin. Hermann Abs' Haus, Neu-Westend, Mecklenburgallee 13, wo ich mein Quartier habe, wurde von 25 Brandbomben getroffen. Es entstanden acht Brandherde, die aber alle ausgetreten werden konnten.

Um Mitternacht dort, finde ich das elektrische Licht im Oberstock außer Betrieb und in meinem Bett einen Ausgebombten, das Zimmer voller Brandschmutz, den Boden mit Lachen von Löschwasser bedeckt. Es riecht nach verkohlten Balken, und durch das zerstörte Dach dringt eisige Kälte.
Das Schlafzimmer von Abs ist ausgebrannt. Ein Wunder, daß das Haus noch steht. Die Flüchtlinge, die Abs bei sich aufnahm, haben seine Gastfreundschaft reichlich vergolten. Ohne ihre Anstrengungen wäre die Villa, wie die benachbarten von Karstadt-Schmitz und Mackeben, verloren gewesen. Alle noch benutzbaren Räume sind mit Bombengeschädigten belegt, die sich gegenseitig auf die Füße treten.

Im Berliner Westen ist bald kein Haus mehr unversehrt. Auf manche Stadtteile prasselten dutzendweise Luftminen. Die Bismarckstraße ein Trümmerhaufen, S- und U-Bahn-Verbindungen schwer getroffen.

Heute morgen gelange ich per Anhalter in die Stadt und muß fünfmal den Wagen wechseln. Fast immer sind es »Dienstwagen«, die sich weigern, Anhalter mitzunehmen. In hoher Fahrt brausen sie halb leer davon. Lieferwagen, Gemüsehändler, Kohlentransporte zeigen sich um so hilfsbereiter. Vom Knie zum Brandenburger Tor nimmt mich ein Auto mit, dessen Verdeck vom Druck einer Sprengbombe abgerissen wurde.

- Werbung Dezent -
Zur Startseite - © 2006 / 2024 - Deutsches Fernsehmuseum Filzbaden - Copyright by Dipl. Ing. Gert Redlich - DSGVO - Privatsphäre - Redaktions-Telefon - zum Flohmarkt
Bitte einfach nur lächeln: Diese Seiten sind garantiert RDE / IPW zertifiziert und für Leser von 5 bis 108 Jahren freigegeben - kostenlos natürlich.