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H. von Studnitz schreibt über die Erfahrungen seines Lebens

Eine Ergänzung zum Thema : "Was ist Wahrheit ?" - 1974 hat Hans-Georg von Studnitz (geb. 1907) ein Buch über sein Leben geschrieben, aus dem ich hier wesentliche Absätze zitiere und referenziere. Es kommen eine Menge historischer Informationen vor, die heutzutage in 2018 wieder aktuell sind, zum Beispiel die ungelöste "Katalonien-Frage" aus 1936.

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Ein indischer Kongress ohne Journalisten

Inzwischen höre ich, daß auf diesem Kongreß überhaupt keine Journalisten, nicht einmal indische, Zutritt haben. Gleichwohl freut man sich über meine Gegenwart und erlaubt mir, den Diskussionen beizuwohnen, die in englischer Sprache geführt werden.

Sie drehen sich um britische Vorschläge zur Reform der indischen Verfassung. Wir speisen im Haus des Abgeordneten Jamnalal Bajaj. Nach indischer Art sitzen wir auf dem Boden und nehmen uns mit den Fingern Speisen, die auf großen Kupfertabletts gereicht werden.

Ich befinde mich in einer Gesellschaft freundlich blickender, barfüßiger Leute, die, eingehüllt in Lendentücher oder das Hemd über der Hose tragend, langbärtig und beturbant, barhäuptig und bebrillt, Weltgeschichte machen. Acht Tage schon sitzt das Arbeitskomitee zusammen, das die Entschließungen vorbereitet.

Nicht einmal der Schein von Ungeduld macht sich bemerkbar. Über Gegensätze lächelt man hinweg. Politische Gegner grüßen einander wie Heilige mit gefalteten Händen. Ein älterer Staatsmann hockt mit hochgezogenen Füßen auf einem Schaukelstuhl, eine Schale Tee auf seinen spitzen Knien balancierend, ein anderer streckt sich in einer Liege aus und spreizt seine Zehen.

An seiner Seite eine der Töchter des Gastgebers, Hanf spinnend. Vor dem Hause parken die eigentümlichsten Gefährte. Uralte Fordwagen, abgetriebene Pferdchen vor halbzerbrochenen zweirädrigen Droschken, ein blitzendes Fahrrad, einem Telegrafenboten gehörend.

Ein Philosoph : "Indien wird durch Europas Schwäche gewinnen"

Ich treffe die Prominenz des Kongresses, Bhulabei Desai, der die Partei während der langen Haft Nehrus geführt hat. Er blickt auf Europa und Großbritannien mit dem Wohlwollen eines Philosophen, der weiß, daß Indien durch Europas Schwäche gewinnen wird. Ich spreche Mr. Kumnarapa, den wirtschaftlichen Berater Gandhis, einen Mann, der alle Industrien in Heimwerkstätten umwandeln möchte.

Ich werde Sarojni Naidu vorgestellt, Indiens berühmtester Dichterin und Schwiegermutter einer Deutschen. Sie lehnt Europa als Ausgeburt des Satans ab, hält die indische Frau für die freieste, die Amerikanerin für das am meisten unterdrückte weibliche Wesen auf Erden.

Extremen Auffassungen dieser Art begegnet man in Indien alle Tage. Nariman und Kher, Führer der Kongreßpartei in Bombay, ziehen mich ins Gespräch. Captain Andesh Pralip, Dr. Khare, G. V. Pant und Mr. Damodar überhäufen Großbritannien mit Vorwürfen. Ich begegne Jawa-harlal Nehm, hinter dessen Stirn sich sozialistische Ideen mit den aristokratischen Traditionen des Brahmanentums berühren.

Mahatma Gandhi kommt 5 Meilen zu Fuß

J. B. Kripolani, der Generalsekretär des Kongresses, unterrichtet mich über die Tagesordnung. Plötzlich tritt Stille ein. Gandhi ist eingetroffen.

Allmorgendlich wandert der Mahatma eine Stunde von seinem fünf Meilen von Wardha bei Maganvadi gelegenen Gehöft herüber. In der rechten Hand einen Stecken, um die Oberschenkel ein weißes Tuch geschlungen, die nackten Füße in Sandalen, trägt Gandhi an der linken Hüfte eine wasserdichte, mit Leuchtziffern versehene amerikanische Taschenuhr.

Er ist 68 Jahre alt und von zeitloser Rüstigkeit. Für alle Fälle folgt ihm auf seiner Wanderung ein von zwei farbenfarbigen Ochsen mit langen Hörnern gezogener zweirädriger Karren. Als einzige Konzession an die Neuzeit hat Gandhi eingewilligt, daß die Holzscheibenräder gegen gummibereifte Drahtfelgen ausgewechselt werden, die man von einem alten Omnibus demontiert hat.

Die Sitzung der großen »Fünfzehn« beginnt

Sogleich nach Gandhis Eintreffen beginnt die Sitzung der großen »Fünfzehn«. Es kommt vor, daß der Mahatma den Vormittag über unbeweglich auf dem Boden verharrt, Reden und Gegenreden anhört, ohne einzugreifen. An Montagen spricht er grundsätzlich nicht.

Den spindeldürren, braunhäutigen Greis umgibt die Ehrfurcht der Kongreßführer, von denen viele durch seine Schule gegangen sind. Die letzte Entscheidung liegt bei ihm allein. Gandhi fällt sie gegen den starken linken Flügel.

Er nimmt die britischen Vorschläge an, nach denen die Kongreßpartei in sechs von elf indischen Provinzen, in denen sie die Mehrheit hat, sich an der Regierung beteiligen soll. Es ist ein erster Schritt auf dem Wege zur Selbstregierung, der manchen Delegierten nicht weit genug geht.

Aber Nehm verfügt: »Der Kongreß ist unfehlbar, seine Entschlüsse sind immer richtig.« Die Katholische Kirche oder das Zentralkomitee der sowjetischen KP könnten sich nicht doktrinärer gebärden!

Ich wollte unbedingt mit Mahatma Gandhi sprechen

Mein Wunsch, Gandhi zu sprechen, stößt auf Hindernisse. Sein Sekretär läßt mich wissen: »Teuerster Freund! Bis zum 8. Juli (1937) ist Mr. Gandhi so beschäftigt, daß er niemanden sehen kann.«

So vertrete ich dem Mahatma den Weg, als er, aus dem Beratungszimmer kommend, die Veranda durchschreitet. »Mr. Gandhi, ich habe den ganzen weiten Weg von Deutschland hierher gemacht, um Sie zu sehen und zu sprechen.«

Es ist der falsche Zungenschlag. Der kleine halbnackte Mann nimmt mich beim Arm, seine klugen Augen hinter den goldumrandeten Brillengläsern blicken mich forschend an, und er entgegnet mir: »Das glaube ich Ihnen niemals. Wenn ich etwas annehme, dann höchstens, daß Sie den Weg vom Bahnhof hierher meinetwegen gemacht haben.« Er entläßt mich mit dem Versprechen, mir anderentags fünf Minuten zu widmen.

Ich durfte den "anderen" Gandhi kennenlernen

Es ist der Nachmittag nach der großen Entscheidung. Als Gandhi, begleitet von den Kongreßführern, die Treppe herunterkommt, warte ich dort ein wenig kleinlaut. Der Mahatma erkennt mich sofort und fordert mich auf, ihn zu begleiten.

Wir spazieren die Landstraße entlang in Richtung auf sein Heimatdorf. Mit seinem großen Stecken läuft der Mahatma neben mir, weit ausholend, in tiefe Gedanken versunken.

Leute, die unseren Weg kreuzen, fallen zu Boden, haschen nach seinen und meinen Füßen, um sie zu küssen. Gandhi weist sie mit einer Handbewegung von sich. Eben noch hat er beim Verlassen des Hauses die Tochter eines Freundes umhalst und gestreichelt.

Jetzt scheint er merkwürdig verwandelt, hart und feindlich. Ich muß an ein Wort seiner Kritiker denken, die von ihm sagen, daß er nur diejenigen segne, die er liebe und kenne. Wie soll ich beginnen, diesen Mann auszufragen, der soeben einen Rubikon überschritten hat und sich in einer halben Stunde anschicken wird, die Spindel zu drehen und seine Ochsen zu tränken.

Endlich traue ich mich, ihn zu fragen

Endlich breche ich das Schweigen: »Warum treten Sie nur noch selten in die Öffentlichkeit?« Die Antwort kommt kurz und schnell: »Ich will jüngeren Kräften das Feld überlassen, sie eignen sich besser für den täglichen Kleinkampf.«

Kaum begonnen, bricht der Dialog wieder ab. Ich denke an mein Interview. Der Mahatma weicht aus, sobald ich ihm eine konkrete Frage stelle. Oder er flüchtet in Formulierungen, die zumindest für den deutschen Zeitungsleser keinen Sinn ergeben. Als ich wissen will, warum er gegen die Eisenbahnen in seinem Lande sei, verweist er auf den Ozean, in dem sich neben dem Wal der Schwertfisch tummele, den Ozean, der die Koralle ernähre und Muscheln an den Strand werfe. So geht es eine Weile zwischen uns. In der Ferne taucht Gandhis Gehöft auf.

Mir bleiben nur noch zehn Minuten, und ich beschließe, aufs Ganze zu gehen. Ich frage Gandhi, ob er seiner Bewegung des passiven Widerstandes irgendeine Chance gebe.

Soweit ich sehen könne, predige er seit Jahren »civil disobedience«, die Engländer seien aber noch immer im Land. »Viele sagen, Sie hätten eine Niederlage erlitten, der Gedanke der >non violent non cooperation< habe sich nicht durchgesetzt.«

Gandhi wird zum ersten Male richtig zornig

Der Schuß sitzt. Gandhi bleibt stehen, seine Augen funkeln vor Zorn, dann entlädt sich seinen bis dahin wie versiegelten Lippen ein Sturzbach von Argumenten. Ich stoße nach:

»Warum haben Sie die Entscheidung gefällt, mit den Engländern zusammenzuarbeiten? Taten Sie es aus aufrichtigem Herzen oder betrachten Sie die Übernahme der Provinzialregierungen nur als Mittel zu einem weiter gesteckten Zweck?«

Gandhi schreit mich an: »Ja, wir betrachten diese sogenannte Mitarbeit, zu der wir uns schweren Herzens entschlossen haben, nur als Mittel, um diese Verfassung zu brechen, als nichts sonst!« Damit bin ich verabschiedet. Ich habe ein »Statement«, das eine Weltsensation werden soll und ein Nachspiel haben wird.

Ich kable mein Gandhi-Interview nach Berlin. Die »Nachtausgabe« bringt es in großer Aufmachung. Reuter übernimmt den Text, der in den Londoner Blättern nachgedruckt wird.

Die Retourkutsche kommt per Post

Ich bin längst in Delhi, als mir die Post einen vom 8. August 1937 datierten Brief von Gandhis Sekretär bringt. Der Mahatma stellt mich zur Rede, wie ich es wagen könne, ihm Worte in den Mund zu legen, die er nie gedacht, geschweige denn ausgesprochen habe - schon gar nicht zu einem Menschen, zu dem gesprochen zu haben, er sich nicht entsinnen könne.

Ich fasse mich an den Kopf. Bin ich einer Halluzination aufgesessen? Haben wenige Wochen Indien genügt, um meine Sinne zu trüben? Ich vertraue mich dem langjährigen »Times «-Korrespondenten in Indien an.

Er lacht und tröstet mich, daß es keinen Journalisten in Indien gebe, dem mit Gandhi nicht ähnliches schon passiert sei. Er rät mir, die Sache nicht ernst zu nehmen. Ich tue, wie mir geheißen, richte einen englischen Brief an Gandhi, der fest bleibt, aber mit all den nichtssagenden Liebenswürdigkeiten gespickt ist, die sich in dieser Sprache besser als in jeder anderen ausdrücken lassen.

Ich füge dem Brief ein Pressephoto bei, das in dem Augenblick aufgenommen wurde, als sich der Mahatma mit mir auf die Wanderschaft macht. Ich bitte den großen Mann, das Photo mit seiner Widmung und Unterschrift zu versehen.

Nach einer Woche wird mir dieser Wunsch erfüllt. Gandhi erwidert in einem Handschreiben meine Artigkeiten, indem er versichert, an das Zusammensein mit mir eine angenehme Erinnerung zu bewahren.

Gandhi, ein Mann, der fast jedem Rätsel aufgibt

Die Unergründlichkeit der indischen Seele hat sich mir in Gandhi zum erstenmal offenbart.

In der Folge lasse ich keine Gelegenheit aus, mehr über den großen alten Mann in Erfahrung zu bringen. Ich entdecke, daß er auch solchen Engländern, die auf ein Menschenalter von Erfahrungen im Umgang mit Indern zurückblicken, Rätsel aufgibt.

Hinter der Sanftheit des Mahatmas verbirgt sich einer der kühnsten Politiker unserer Zeit, hinter seinem heiligmäßigen Gebaren ein Sinnenbold, der sich seiner Wirkung auf Frauen bewußt ist. Sie lassen nicht von ihm, teilen seinen Haushalt; Engländerinnen, Deutsche und Amerikanerinnen zählen zu seiner engsten Umgebung.

Monate später sagt mir Sir John Anderson, der Gouverneur von Bengalen, die indische Polizei führe eine Akte über das Privatleben des Mahatmas. In ihr gebe es Vorkommnisse, die nach englischem Recht Sittlichkeitsdelikte seien, sie würden genügen, um Gandhi auf Jahre hinter Schloß und Riegel zu setzen. Die Regierung sehe davon aus politischen Gründen ab.

Ich maß dererlei Behauptungen keine Glaubwürdigkeit zu. Aber ich sollte noch einmal an sie erinnert werden, 1960 erschien »Mahatma Gandhis Autobiographie«, veröffentlicht von seinem Sekretär Mahadev Desai, mit dem bezeichnenden Untertitel »Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit«.

In ihr schildert Gandhi die Ehe, die er als Dreizehnjähriger auf Geheiß seines Vaters mit einem gleichaltrigen Mädchen einging. Er spricht davon, daß er seinen Eltern zugetan war. »Doch nicht minder ergeben war ich den Leidenschaften, deren Erbe das Fleisch ist.«
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Später - Ein Treffen mit Nehru

Nehru, den ich im September darauf in Allahabad wiedertreffe, ist aus anderem Holz geschnitzt. Er bittet mich, vor einer Studienkommission der dortigen Universität zu erscheinen, die über das Thema »Eignet sich der Faschismus für Indien?« diskutiert.

Ich werde 800 Studenten präsentiert, die sich mehrheitlich als Antifaschisten zu erkennen geben. Nur einer, der das Werk Mussolinis schildert, vermag sich halbwegs durchzusetzen.

Als Gast Nehrus empfängt mich anhaltender Beifall. Ich spreche 15 Minuten und stelle in der anschließenden Diskussion fest, daß die indischen Kenntnisse über Deutschland beschränkt sind.

Nehru beglückwünscht mich zu meinem rhetorischen Erfolg. Dann lädt er mich zum Essen in sein Haus ein. In die Wohnung eines wohlhabenden Mannes, jedoch bescheiden, verglichen mit dem Anwesen, in dem sein Vater residierte. Nehru hat sein persönliches und das riesige Vermögen seines Vaters der Sache Indiens vermacht. In seinen eigenen Räumen wohnt er als Gast.

Der einzige Besitz, den er liebt, ist seine Tochter Indira, die Hinterlassenschaft seiner von ihm vergötterten Frau. Seine Autobiographie, die er mir zueignet, beginnt mit der in ihrer Schlichtheit so erschütternden Widmung »To Kamala, who is no more«. Kamalas Tod hat ihn einsam gemacht. Seine Bescheidenheit ist rührend. Man gewinnt den Eindruck, daß dieser Mann aus allem und jedem, das ihm begegnet, zu lernen sucht.

Nehru und Gandhi

So erklärt sich seine Beziehung zu Gandhi, den er wie kaum ein zweiter kennt, von dem er nicht verschiedener sein könnte und dessen ihm oft entgegengesetzten Anschauungen er sich immer wieder unterordnet.

Für die Schwächen Indiens hat Nehru das schärfere Auge. Er ist nicht bereit, etwas hinzunehmen, nur weil die Überlieferung es so will. Das gibt ihm die Autorität über die jungen Leute, die ihm stärker anhängen als Gandhi, der die Alten zu gewinnen versteht.

Ich schlage ihm vor, indische Akademiker zum Besuch deutscher Hochschulen anzuhalten. Er will es bedenken und hofft im nächsten Jahr Deutschland besuchen zu können. Nehru ist alles andere als ein Kommunist. Aber in seinen Reden bedient er sich bisweilen einer Ausdrucksweise, die auf eine Infizierung mit marxistischen Gedankengängen schließen läßt.

Er hat der Kongreßpartei das Führen roter Fahnen untersagt, aber er weiß, daß die Sowjetunion nicht anders als China ein Nachbar ist, den künftige indische Regierungen sowenig werden übersehen können wie jetzt die Engländer.

Der Brahmane Nehru, der höchsten Hindukaste in Kaschmir angehörend, hat für eine Diktatur des Proletariats nichts übrig. Was ihm vorschwebt, ist eine Oligarchie, die sich auf Intelligenz gründet.

Nicht ohne Stolz weist er darauf hin, daß fast alle Minister, die die Kongreßpartei für die Provinzialregiemngen nominiert hat, Brahmanen sind, ein Phänomen, in dem er ein inneres Gesetz sehen will.

Im Unterschied zu Gandhi . . . . .

. . . . der in Südafrika zur Hindu-Philosophie zurückfand, glaubt Nehru, der in Oxford studierte, daß Europa und Großbritannien nur mit ihren eigenen Waffen geschlagen werden können.

Während Gandhi darauf baut, daß die indische Erde die britische Herrschaft absorbieren wird, fürchtet Nehru, daß Großbritannien Indien immer stärker in sein Herrschaftssystem integriert. Er hat das an sich selbst erfahren.

Sein Vater war so englisch eingestellt, daß er sogar seine Hemden in England waschen ließ. Die Haft in britischen Gefängnissen hat Nehrus heimlicher Bewunderung für Großbritannien keinen Abbruch getan. Nehru ist ein Autokrat. Während Gandhi Anregungen vermittelt, Vorschläge macht, Bitten vorträgt, zum Beschwörer wird, befiehlt Nehru.

Genugtuung - ich hatte mit 1937/38 nicht geirrt

Für einen Journalisten bedeutet es immer eine Genugtuung, wenn er frühe Eindrücke von politischen Persönlichkeiten durch die Entwicklung bestätigt findet. Von den Berichten, die ich aus Indien und über Indien in den Jahren 1937/38 veröffentlichte, habe ich nichts zurückzunehmen brauchen.

Nehru war zum Kampf gegen Großbritannien entschlossen. Anders als Gandhi hätte er auch blutige Auseinandersetzungen in Kauf genommen. Aber er war glücklich, daß die britische Arbeiterregierung die Überleitung der Macht an die Kongreßpartei in die Hände des zum letzten englischen Vizekönig ernannten Lord Louis Mountbatten legte, eines Sprosses jener englischen Oberschicht, die dem Herzen des Brahmanen Nehru so unendlich viel mehr bedeutete als dem Verstände des Revolutionärs Nehru die britische Labour Party.

London 1938 - eine 3. Begegnung mit Nehru

Meinen beiden Begegnungen mit Nehru in Indien folgte eine dritte in London. Im Juni 1938 teilten mir indische Freunde mit, daß Nehru sich für eine Europareise rüste. Ich setzte mich mit dem Auswärtigen Amt in Berlin in Verbindung mit dem Vorschlag, Nehru zu einem Besuch Deutschlands einzuladen. Die Anregung fiel auf fruchtbaren Boden. Man sah in ihrer Verwirklichung eine Gelegenheit, die bei mehreren Anlässen bekundete Voreingenommenheit Nehrus gegen das neue Deutschland zu »korrigieren und vielleicht sogar in eine positive Einstellung wandeln zu können«. Von einem Empfang Nehrus durch offizielle Persönlichkeiten in Berlin wollte man jedoch nichts wissen.

Am 1. Juli 1938 traf ich Nehru im Ormonde-House, seinem Londoner Domizil, um das Projekt eines Abstechers nach Deutschland zu erörtern. Das Gespräch wurde mit dem gleichen Freimut geführt, der unsere Kontakte in Indien so aufschlußreich gemacht hatte.

Nehru erwähnte, daß seine in Oxford studierende Tochter Indira seit langem den Wunsch habe, das Deutsche Museum in München zu besuchen, eine Absicht, die er billige. Ihn selbst ziehe es nach Wien. Ein Deutschlandbesuch, den er nicht ausschließen wolle, sei für ihn mit gewissen Schwierigkeiten zu Hause verbunden.

Er müsse ihn vor seiner Partei rechtfertigen, und er wisse nicht, wie man dort eine solche Reise aufnehmen werde. Auch fürchte er, in Europa vom Kriege überrascht zu werden, wobei er auf die Sudetenfrage verwies.

Schon damals keine deutsche Indien-Politik

In einer Aktennotiz vom gleichen Tage (1.7.1938) schrieb ich:

»Mein Gesamteindruck ist, daß Nehru dem Projekt einer Deutschlandreise, das er während meines Aufenthaltes in Indien wesentlich enthusiastischer bejahte, heute zögernd gegenübersteht. Dabei spielen einmal politische Bedenken mit. Er ist ohne Zweifel von der gegenwärtigen Welle antideutscher Propaganda nicht unbeeinflußt geblieben und in seiner politischen Gesamtkonzeption unsicherer geworden. Er wiederholte, was er mir schon in Indien gesagt hatte, daß er und seine Partei zwar den britischen Imperialismus bekämpfen, aber aus weltanschaulichen Gründen gegen die faschistischen Staaten stehen. Daraus ergebe sich ein Konflikt, dem er im Augenblick auszuweichen sucht.«

Der Plan zerrann wie so viele Versuche, die auswärtigen Beziehungen des Reiches durch Fühlungnahmen mit einflußreichen Ausländern zu vertiefen. Eine deutsche Indienpolitik gab es unter Hitler sowenig wie unter Brandt und Eppler.

Nach 1940 - der Indienrat des Auswärtigen Amtes

Als ich während des Krieges in den Indienrat des Auswärtigen Amtes berufen wurde, der mehrmals im Monat unter dem Vorsitz des Staatssekretärs Keppler zusammentrat, fand ich nur in dem späteren Botschafter Melchers einen Kenner der Materie, über die wir berieten. Keppler glaubte allen Ernstes, Hitler werde die »Indienfrage« mit der gleichen Leichtigkeit lösen wie die Österreichfrage.

Als der indische Politiker Subhas Chandra Bose in Berlin auftauchte, ein heißblütiger, äußerst gescheiter Bengale und scharfer Gegner Gandhis, erreichte die Indien-Verwirrung Berliner Stellen ihren Höhepunkt.

Nehru hatte mehrere starke Gegener

Auch Nehrus schärfster innenpolitischer Gegner, der Führer der Muslim League, Mohammed Ali Jinnah, hatte seine Prägung durch Großbritannien erfahren und erinnerte in seinem Gehabe an einen perfekten englischen Gentleman. Von Beruf Rechtsanwalt, bewohnte er in Bombay ein luxuriöses Haus. Mit seinen scharfen Gesichtszügen, dem an einer schwarzen Schnur pendelnden Einglas und einer Nelke im Knopfloch glich er einem indischen Sir Austen Chamberlain. Wie Nehru liebte er seine Tochter, die damals achtzehnjährige Dina, die in seinem Hause die Honneurs machte.

Die andere Frau in Jinnahs Leben war seine Schwester Fatimah, die ihm von seinen sechs Geschwistern am nächsten stand und seine politischen Ambitionen teilte. Wie Nehru sprach Jinnah ein brillantes Englisch, wie dieser war er ein Autokrat, von unbeugsamem Willen und einem Hang zur Rechthaberei, den der Pandit vermissen ließ, der bei Nehrus Tochter Indira Gandhi aber gelegentlich hervortritt.

Den Hass der Religionen gab es in Indien bereits früh

Jinnah ließ keinen Zweifel darüber, daß er dem Kampf der Kongreßpartei gegen die Engländer mit gemischten Gefühlen zusah. Ich bin mir nicht sicher, ob er damals schon einen Plan für die Teilung Indiens gefaßt hatte, ob er bereits an Pakistan dachte, das aus den Nachkriegswirren als selbständiger mohammedanischer Staat neben dem Hindu-Indien Gandhis und Nehrus hervorgehen sollte.

Über meine Eindrücke aus diesem Gespräch schrieb ich: »Die Mohammedaner in Indien mißtrauen den Engländern, aber sie hassen die Hindus. Die Wahl, mit wem sie im entscheidenden Augenblick gehen sollen, liegt auf der Hand... Es ist die jüngste Entwicklung, die die Mohammedaner erregt.

Zuschauer zu sein, wie England unter dem Gesetz seiner nach Indien verpflanzten Demokratie Stück für Stück seiner Herrschaft der Hindu-Mehrheit einräumt, ihr den Staatsapparat überläßt, der nach der Auffassung der Mohammedaner von den Hindus gegen sie eingesetzt werden wird.

Der Mohammedaner haßt den Hindu mit der Inbrunst, die der körperlich Stärkere gegen den geistig Überlegenen empfindet. Das Mißtrauen der Mohammedaner gegen England entspringt der Überlegung, daß die Rückkehr der Hindus zur Macht nur über den Umweg der britischen Herrschaft möglich geworden ist (die den Mohammedanern und nicht den Hindus von den Engländern entrissen wurde).

Ohne Großbritannien würde Indien morgen wieder mohammedanisch regiert werden (wie unter den Mogulkaisern). Gleichwohl betrachtet man dieses unverständlich werdende England, dieses nachgebende England als letzte Rettung (der Mohammedaner). Denn so sicher ist man seiner Sache nicht, wenn sie in die eigenen Hände genommen werden würde.«

1937 war in Wardha die Zukunft Indiens versammelt. Niemand ahnte, daß ein zweiter Weltkrieg vor der Tür stand und die Forderung der indischen Nationalisten innerhalb eines Zeitraumes erfüllen würde, von dem die Optimisten unter ihnen nicht einmal zu träumen wagten.

Die indische Wirklichkeit 1937 sah anders aus. Sie lag im Schatten der kaiserlichen Paläste, die der britische Architekt Sir Edwin L. Lutyens in New Delhi für den Vizekönig, seine Administration und das von den Engländern ins Leben gerufene Zentralparlament errichtet hatte.

Die Wirklichkeit hieß Simla, die 2169 Meter über dem Meer, an den Hängen des Himalaja erbaute, von Zedern und Laubwäldern eingeschlossene Sommerhauptstadt. Die Wirklichkeit thronte auf dem Observatory Hill, im Schloß des Vizekönigs, Lord Linlithgow.

Seit dem 18. April 1936 bekleidete Seine Exzellenz Victor Alexander John Hope, Earl of Hopetown, Viscount Althrie, Baron Hope, Baron Hopetown, Baron Niddry, Marquess of Linlithgow das Amt Seiner Britannischen Majestät höchst ehrenwerten Generalgouverneurs für Britisch-Indien, herrschte ein schottischer Hocharistokrat über 350 Millionen Menschen aller Rassen, Religionen und Hautfarben.

Die Repräsentanten der englischen Macht in Indien

Als der Prinz von Wales den Gouverneur der Provinz Bombay, Lord Lloyd, besucht und der Statthalter den Thronerben durch Stallungen führt, in denen jedes der 300 Pferde des Gouverneurs von drei indischen Grooms gewartet wird, er dem königlichen Prinzen die Zwinger zeigt, in denen jedem Hund Lord Lloyds ein eigener Betreuer zur Verfügung steht, entringt sich dem späteren Eduard VIII. der Ausruf: »Now I know, how a Sovereign ought to live.« (»Jetzt weiß ich, wie ein Herrscher leben sollte.«)

Treten die britischen Provinzgouverneure in Indien wie Halbgötter auf, so nimmt der Generalgouverneur den Rang einer Gottheit ein. Er steht auf einem Podest, neben dem sich die Throne europäischer Fürsten bescheiden ausnehmen.

Der Sinn für Distanz, der zu den tiefsten Geheimnissen britischer Kolonialkunst gehört, gewinnt Gestalt, sobald man sich einem Regierungsbüro nähert. Vor jedem Europäer, ob er dort zu tun hat oder nicht, präsentiert der Posten das Gewehr. Innen übernimmt ein Diener, der in seinem kasackähnlichen Rock und einem elfenbeinernen Zierdolch einem Leibgardisten des Zaren ähnlicher sieht als einem Büroangestellten, die Karte des Besuchers.

Lauter Vizekönige und Prinzen

Die Wände des Wartezimmers dekorieren Photographien, die frühere Vizekönige inmitten Gruppen indischer Nabobs zeigen. Der Vizekönig sitzt, die Rajas stehen. Neben ihren prunkvollen, mit kostbaren Steinen besetzten Gewändern, ihren vollblütigen, bartbedeckten Gesichtern, ihren sinnlichen Augen unter den phantastisch gedrehten Turbanen nehmen sich die hageren Züge eines Marquess of Curzon, eines Lord Chelmsford, eines Earl of Willingdon seltsam nüchtern aus. Ein Eindruck, der durch den grauen, mit einem Seidenrevers besetzten Gehrock des Vizekönigs, seinen auf den Knien balancierenden Tropenhelm und den die Hände stützenden Spazierstock noch verstärkt wird.

Aber diesen Beamten unter den Prinzen umgibt ein Nimbus, von dem man sich in Europa keine Vorstellung macht. Ihm gilt ein Protokoll, das mit einer an Fanatismus grenzenden Präzision beobachtet wird.

Für unsereins unfaßbar - 61 Rangstufen

Die Ordnung bei Tisch kennt 61 Rangstufen, die durch einen königlichen Erlaß vom 9. April 1930 noch einmal ausdrücklich bestätigt worden ist. Nur 18 Jahre später sollte der Gang der Geschichte sie wieder vom Tische fegen.

Der erste Platz gebührt dem Vizekönig, die folgenden den Gouverneuren der Provinzen Bombay, Bengalen und Madras.

Nach ihnen kommt der Oberbefehlshaber der anglo-indischen Armee, an den sich die Gouverneure von Punjab, Bihar, Orissa, Burma, der Vereinigten Provinzen, von Assam, der Zentralprovinzen und der Nordwest-Grenzprovinz schließen.

An siebenter Stelle rangiert der oberste Richter in Bengalen. Die ersten Inder in Gestalt des Vorsitzenden des Staatsrates und des Präsidenten der gesetzgebenden Versammlung haben Anspruch auf den zehnten und elften Platz dieser Sitzordnung. An letzter, an 61. Stelle wird der Einkommenssteuerbeamte eingestuft. Diese Tischordnung fällt in dem Augenblick, in dem Mitglieder der königlichen Familie, englische Aristokraten oder Mitglieder des britischen Unterhauses in Indien aufkreuzen.

Sie müssen ebenso wie die Ritter des Hosenbandordens nach den am Hof von St. James geltenden Vorschriften gesetzt werden. Befindet sich ein indischer Fürst unter den Gästen, so plaziert ihn sein Rang nächst dem Vizekönig, aber nicht vor den Gouverneuren von Bombay, Bengalen und Madras.

Englische und indische Pinzen und die Salut-Schüsse

Für die indischen Prinzen haben die Engländer ein Reglement eingeführt, das dem Grad ihrer Souveränität und der Bedeutung ihrer Fürstentümer Rechnung trägt. Man teilt sie in Salut-Prinzen und in gewöhnliche Rajas ein.

Dem britischen König als Kaiser von Indien stehen 101 Salutschüsse, seinem obersten Vertreter, dem Vizekönig, 31 zu. Ausländische Herrscher werden mit 21 Schüssen willkommen geheißen, der Premierminister von Nepal mit 19.

Den Sultan von Sansibar, die Maharadschas von Kaschmir, Mysore, Gwalior und Baroda sowie den reichsten der indischen Herrscher, den Nizam von Hyderabad, empfangen 21 Kanonenschüsse. Von den übrigen Maharadschas müssen sich dreizehn mit 17 Schuß, achtzehn mit 15, sechzehn mit 13, dreißig mit 11 und zweiunddreißig mit 9 Schüssen begnügen.

Einigen Rajas steht jedoch eine zusätzliche »persönliche« Ehrung zu. So entfesselt der Fürst von Kalat bei seiner Ankunft einen regelrechten Schlachtenlärm. Manche Herrscher bezahlen ihren Salut selbst. Jeder Kanonenschuß kostet zehn Annas. Der Aga Khan, ein König ohne Land, aber Oberhaupt von eineinhalb Millionen Mohammedanern, genießt als Nachkomme des Propheten göttliche Ehren, die die Engländer mit elf Salutschüssen honorieren.

Und sie wachen über Einhaltung dieser Referenzen

Die Fürsten wachen eifersüchtig über die Einhaltung dieser Referenz. Einige führen den Titel »Sir« und weisen sich damit als Inhaber des niedrigsten englischen Adelsranges aus.

Andere, die in ihren Staaten über eigene kleine Armeen gebieten, sind stolz darauf, bei den anglo-indischen Streitkräften die Charge eines Generalleutnants zu bekleiden.

In den englischen Zeitungen erscheint täglich ein Hofzirkular, das über Vorgänge an den Residenzen des Vizekönigs und der Gouverneure berichtet. In keiner Zeitung, auch in indischen nationalistischen Blättern nicht, wird des Vizekönigs und der Gouverneure anders als in der dritten Person und mit dem Titel »His Excellency« Erwähnung getan.

In einem »Government-House« als Gast zu weilen bedeutet, sich höfischem Zeremoniell zu unterwerfen. Trifft man verspätet ein und hat keine Zeit zum Umkleiden, so erscheint ein Adjutant des Gouverneurs, um dem Gast nahezulegen, an diesem Abend auf seinem Zimmer zu speisen.

Ihre Exzellenzen sehen niemanden an ihrer Tafel, der dem vorgeschriebenen Anzug nicht genügt. Noch pflegen sie auf ihre Gäste eine Minute zu warten.

Weitere femdländische Sitten und Gebräuche

Betritt der Gouverneur den Speisesaal, so fällt das Hausorchester mit der Nationalhymne ein.

Wie ein Souverän hat der Gouverneur Vortritt, auch vor seiner Gemahlin. Gäste werden an seine Seite »befohlen«. Beendet er die Tafel, so wird wiederum »God save the King« gespielt, wobei alle Anwesenden sich erheben und die Offiziere salutieren.

Besucht der Gouverneur ein Theater oder ein Kino, so wiederholt sich dieser Akt. Gibt es kein Orchester, so wird eine Grammophonplatte mit der Hymne aufgelegt. Auf den Fanfarentüchern der Musikanten prangt der gekrönte Namenszug des Gouverneurs, der auch auf den Livreen der Dienerschaft in Erscheinung tritt.

Ist der Gouverneur ausnahmsweise kein Aristokrat, so tut auf Speisekarten, Pferdedecken und Wagenschlägen das britische Staatswappen diesen Dienst. Die Dienerschaft in den Regierungspalästen umfaßt je nach dem Lebensstil des Hausherren 200 bis 1000 Personen. Der größte Teil des Personals zieht zweimal im Jahre um, wenn die Gouverneure, der Jahreszeit folgend, von ihrer Winter- in ihre Sommerresidenz übersiedeln.

Sobald der Statthalter ausgezogen ist, wird sein Palais renoviert.

Die Fahnen und die Wachen

Auch vor einem verwaisten »Government House« stehen Tag und Nacht Wachen. Kehrt der Gouverneur zurück, so wird die englische Flagge gehißt, um anzuzeigen, daß Seine Exzellenz sich wieder »in residence« befindet.

Eröffnet der Gouverneur das Provinzparlament, so eskortiert ihn eine Schwadron Lanzenreiter. Nur etwas unterscheidet den Vizekönig von seinem König, den Gouverneur von seinem Souverän.

Sobald ihre Amtszeit vorüber ist, verwandeln sich die Statthalter in gewöhnliche Sterbliche. Man kann ihnen dann an Deck eines heimkehrenden P. and O.-Steamer begegnen oder auf dem Dach eines Omnibusses in Piccadilly. Es gibt keinen »Gouverneur a. D.«, keinen Vizekönig im Ruhestand, den irgend jemand mit seiner früheren Amtsbezeichnung anreden würde. Vizekönig und Gouverneure sind Könige auf Zeit, sie herrschen fünf Jahre, um dann zurückzutreten in die Reihen der Namenlosen, die einmal dem britischen Weltreich dienten.

Juli 1937 - Zu Besuch auf dem Dach der Welt

Von all dem weiß ich wenig, als ich am Dienstag, den 13. Juli 1937, mittags um 12.15 Uhr zur Audienz beim Vizekönig beschieden werde. Als meine Rikscha das Torhaus zum Park der »Viceregal-Lodge« passiert, tritt mit Trommelwirbel die Wache unter das Gewehr.

An der Einfahrt verneigt sich ein Dragoman, der die Aufsicht über das Besucherbuch führt. Die Kulis keuchen den kiesbestreuten Fahrweg hinauf. Das neugotisch erbaute Sommerschloß des Vizekönigs liegt auf dem höchsten der drei Berggrate, die Simla tragen. Mit seinen von Rhododendron und Begonien eingefaßten Terrassen, umgeben von Rasenflächen, Tennisplätzen und Schwimmbädern, blickt es rundherum auf das königlichste Panorama der Erde.

Aus tiefen Schluchten steigen mit jäh abfallenden Flanken die Vorberge des Himalaja-Massivs auf. Unabsehbar stehen Gebirgsketten gegeneinander. Smaragden leuchten die bewaldeten Berglehnen. Tannen und Zedern, höher als Schiffsmaste, ragen mit ihren Wipfeln aus den Schwaden der aus den Senken steigenden Dämpfe.

Auf dem Dach der Welt liegt dieses Schloß hoch über dem Subkontinent, der aus seinen Gemächern beherrscht wird.

Dann im Schloß - Staunen ist angesagt

Schokoladenhäutige Diener in scharlachfarbenen Livreen und Turbanen mit blaugold geriffelten Schleppen flankieren den Purpurläufer der Freitreppe. Ein Zeremonienmeister mit edelsteinverziertem Säbel geleitet mich in die Vorhalle des Palastes, die erste Station eines protokollarischen Kalvarienweges, dessen Prunk sich von Raum zu Raum steigert.

Ich passiere getäfelte Hallen, brennende Kaminfeuer, blühende Azaleen, chinesische Vasen und indische Bronzen, Porträts von Vizekönigen und kolorierte Kupferstiche mit reizenden Motiven aus der frühen Kolonialzeit. Sie zeigen ehrenwerte Gentlemen beim »pigsticking«, einem indischen Herrensport, vor dem Hintergrund einer Zuckerrohrpflanzung, aus der eingeborene Treiber hervortreten.

In jedem Salon erwarten mich höhere indische Würdenträger. Endlich erreichen wir einen Saal, in dem Prinzen in juwelenbesetzten Röcken versammelt sind.

Wie damals 1935 - bei Papst Pius XI.

Ich erinnere mich einer Audienz, die Pius XI. mir 1935 im Vatikan gewährte.

In der letzten Anticamera machten römische Fürsten die Honneurs, dann öffneten sich die Türen zum Papst. Meine Erwartung, das vizekönigliche Vorzimmer erreicht zu haben, erfüllt sich jedoch nicht.

Ein junger Raja nimmt mich beim Arm und weist mich in einen fast leeren Saal. Als ich ihn zur Hälfte durchmessen habe, erscheint in der gegenüberliegenden Tür ein blutjunger britischer Leutnant. In blauer Uniform mit goldenen Knöpfen und roten Biesen an der Hosennaht, stellt er sich als Flügeladjutant Seiner Exzellenz mit dem Auftrag vor, mich zum Vizekönig zu bringen. Abermals wandern wir durch eine Flucht von Salons, die sich von den hinter mir liegenden durch eine Nuance unterscheiden. Die hier aufwartenden Hofchargen sind Engländer.

Den Abstand zwischen Herrschern und Beherrschten pflegen

In diesem Augenblick begreife ich, wie sehr Zeremoniell dazu dienen kann, den Abstand zwischen Herrschern und Beherrschten zu unterstreichen, den Begriff der »paramount power« auszuprägen.

Was hier praktiziert wird, hätte einem Philipp IL, einem Ludwig XIV. angestanden. Der spanische Habsburger pflegte allein zu speisen und sich bei Tische von Herzögen aufwarten zu lassen, die sich, das Gesicht auf den König gerichtet, rückwärtsschreitend wieder von der Tafel entfernen mußten. Der große Bourbone erhob sein morgendliches Lever zu einem Staatsakt, bei dem die Spitzen des Hofes zugegen waren.

Ein Protokoll dieses Ranges haben die Engländer nach Indien übertragen. Den Generalgouverneur umgibt einmal ein indischer Hofstaat, dessen höchste Ämter eingeborene Prinzen bekleiden.

Über der obersten indischen steht die unterste britische Charge, und in englischer Besetzung rollt das ganze Schauspiel noch einmal ab. Der Vizekönig verhält sich nicht anders als einstmals die Mogulkaiser. Er entspricht der hierarchischen Ordnung in einem Lande, das an unübersteigbare Grenzen zwischen hoch und niedrig gewöhnt ist.

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