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H. von Studnitz schreibt über die Erfahrungen seines Lebens

Eine Ergänzung zum Thema : "Was ist Wahrheit ?" - 1974 hat Hans-Georg von Studnitz (geb. 1907) ein Buch über sein Leben geschrieben, aus dem ich hier wesentliche Absätze zitiere und referenziere. Es kommen eine Menge historischer Informationen vor, die heutzutage in 2018 wieder aktuell sind, zum Beispiel die ungelöste "Katalonien-Frage" aus 1936.

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Die nächsten Seiten erzählen nur aus Indien und Afghanistan

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1937 - Aus Spanien abberufen - auf gehts nach Indien

Nach Guadalajara war mit spektakulären Ereignissen im Spanischen Bürgerkrieg vorerst nicht zu rechnen. Das Interesse des deutschen Zeitungslesers kühlte sich ab. Die Scherl-Redaktionen beschlossen meine Abberufung, ohne einen Nachfolger zu ernennen. Das Douceur, das man für mich bereithielt, hieß Indien.

Meine Betrachtungen von Indien im Vorwort

Im Jahre 1937 lag Indien im Abendglanz einer Weltherrschaft, deren Zenit der britische Imperialismus um die Jahrhundertwende erreicht hatte. 1914 markierte den Beginn des Abstieges.

Die Mobilisierung der materiellen Reserven Indiens für die britischen Kriegsanstrengungen, die Entsendung indischer Truppenteile auf die europäischen Schlachtfelder veränderten die Beziehungen zwischen dem weißen Mann und den farbigen Völkern auch auf dem indischen Subkontinent.

Der von Gandhi erweckte indische Nationalismus begann an der britischen »paramount power« zu nagen. Unter der Führung des Mahatmas entwickelte sich eine Bewegung, die mit neuartigen Mitteln, wie der »civil disobedience«, für die Lossagung von Großbritannien eintrat.

Um die Mitte der dreißiger Jahre war der Ausgang dieses Prozesses ungewiß. Noch stand die britische Kunst der Lenkung fremder Völker in hoher Blüte. In Indien zogen die Engländer alle Register einer Beherrschungstechnik, bei der die Unterworfenen über die letzten Absichten der Londoner Politik im unklaren gelassen wurden.

Indien wird mit Zuckerbrot und Peitsche regiert

Politische Konzessionen und administrative Härte wechselten miteinander ab. Eben noch war Gandhi gefeierter Mittelpunkt der Londoner »Round Table« Conference und Gast des Königs von Großbritannien und Kaisers von Indien im Buckingham-Palace gewesen.

Wenige Tage nach seiner Rückkehr wurde er in Indien verhaftet, weil er es versäumte, einer Aufforderung des Vizekönigs nachzukommen, ihm in Delhi Bericht zu erstatten. Eine Welle der Empörung erfaßte das riesige Land. Lord Willingdon ließ sich nicht im mindesten beirren.

Begleitet von einer Eskorte Bengal Lancers, fuhr er durch eine nach Hunderttausenden zählende Menschenmenge auf die Rennen in Poona. Keine Hand erhob sich, kein Steinwurf traf den Viererzug und die offene Kalesche, in der der Generalgouverneur an der Seite von Lady Willingdon im grauen Cutaway und Zylinderhut sich den Massen zeigte.

Man sagte damals: »Pontius Pilatus wusch sich nicht die Hände in Unschuld, er fuhr auf die Rennen.« Mochte die britische Regierung dem Überfall Mussolinis auf Abessinien tatenlos zugesehen haben, in der indischen Manege bewegten sich die Statthalter Seiner Britannischen Majestät mit der Sicherheit von Dompteuren, die sich im Umgang mit dem Tiger allein auf die Macht ihres Auges verlassen.

Das moderne Indien war das Werk der Engländer.

Dieses Selbstvertrauen gründete sich auf eine in der Geschichte der kolonialen Imperien beispiellose Leistung. Das moderne Indien war das Werk der Engländer. Sie hatten die Hungersnöte beseitigt, indem sie den Subkontinent mit einem Telegrafen- und Bahnnetz überzogen, das die Verteilung von Nahrungsmitteln aus Überschuß- in Notstandsgebiete gestattete.

Sie deichten die großen Ströme ein, deren Überschwemmungen jährlich ungezählten Menschen Leben und Eigentum kosteten. Sie geboten den Seuchen Einhalt, verminderten die Kindersterblichkeit und erhöhten die Lebenserwartung der Bevölkerung.

Sie öffneten die Häfen dem Welthandel und schufen eine Infrastruktur von Straßen, Herbergen und Flugplätzen, die Indien dem Fremdenverkehr erschlossen. Sie sicherten die indischen Altertümer vor Raub und Verfall. Sie bekämpften das Analphabetentum, bauten Schulen und Universitäten, die den Indern moderne Bildung vermittelten, sie mit angelsächsischem und römischem Recht, mit Medizin und Mathematik, mit Physik, Chemie und Statik vertraut machten. Sie schufen im »Indian Civil Service« eine vorbildliche Verwaltung.

Rückblick auf 1857 - die Meuterei der Sepoys

Nach blutigen Kämpfen, unter denen die Meuterei der Sepoys im Jahre 1857 ihnen fast die Herrschaft kostete, gaben die Engländer dem Lande inneren und äußeren Frieden.

Sie stellten eine Polizei auf, die kaum ein Verbrechen unaufgedeckt ließ, und musterten unter dem Befehl britischer Offiziere eine Armee an, in der Angehörige aller Rassen und Religionen einträchtig dienten.

Sie gaben dem Lande die englische Sprache und damit das Mittel zur Überwindung babylonischen Wirrwarrs. Sie versöhnten eine Vielfalt asiatischer Kulturen mit der Zivilisation des Westens und vermittelten Indien eine Gerichtsbarkeit, welche die Gleichheit aller vor dem Gesetz herstellte.

Angesichts abenteuerlich zu nennender Umstände vermieden die Engländer im langen Lauf ihrer Herrschaft über Indien doch die Fehler, denen Eroberer so leicht verfallen. Ihr Regime gereichte dem Lande zum Segen, denn es begründete einen neuen Standard von Gesittung, den zu halten die in die Unabhängigkeit entlassenen indischen Staaten sich mühen.

  • Anmerkung : Das war Herrn von Studnitz Eindruck von vor dem 2. Weltkrieg, als Indien noch von London aus regiert wurde. Das änderte sich alles nach der Selbständigkeit.

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Indien - für mich eigentlich ein Buch mit sieben Siegeln

Mir war klar, daß sich meine Berichterstattung im wesentlichen auf den englischen Ausschnitt indischen Lebens, auf das Verhältnis zwischen Herrschern und Beherrschten, beschränken mußte.

Indien selbst, seine Geschichte, das Land als Wiege so vieler Sprachen, Kulturen, Bekenntnisse, das Indien des Hinduismus, des Islams, des Buddhismus, der Kasten und Sekten, erschien mir als ein Buch mit sieben Siegeln, die zu erbrechen ich als vermessen betrachtete.

Ich war kein Indologe und besaß keine Anlage, es zu werden. Mir blieb nichts übrig, als, einem unbelichteten Film gleich, aufzuzeichnen, was ich sah. Ich unterschied mich darin nicht von anderen Reiseschriftstellern meiner Zeit.

Keinem von uns wäre es eingefallen, mit vorgefaßten Meinungen auf Wanderschaft zu gehen, Blindheit zu wollen und schreibend zu praktizieren. Unbefangenheit war mein einziges Indiengepäck. So eröffnete sich mir eine Welt, die mich in das Alte Testament versetzte.

Die bunte Vielfalt Indens wurde nicht angetastet

Ich fand eine archaische Landschaft vor, in der alles wie eh und je seinen festen Platz hatte. Fürsten und Brahmanen, Bauern und Handwerker, Banditen und Bettler, Heilige und Huren, Schriftgelehrte und Geldwechsler, Witwen und Zwerge wiesen sich als solche aus.

Indien hatte sich noch nicht in das graue Mufti geflüchtet, das nach dem Sturz des Sultanats die Türkei aller Farbe beraubte.

Die britischen Eroberer hüteten sich, diese bunte Vielfalt anzutasten. Sie versahen nicht wie die Römer die Standbilder der eroberten Länder mit den Namen ihrer eigenen Götter. Es hatte kein Umtausch, keine Übermalung von Kulturen stattgefunden. Das anglikanische Kirchlein stand zwischen Hindutempeln und Moscheen, wo es sich beziehungslos zur indischen Umwelt behauptete.

Ich wollte und durfte "neutral" bleiben

Meine Linie war damit vorgezeichnet. Ich bemühte mich nicht um Indianisierung und sah mich durch die Berührung mit der indischen Geisteswelt in meinem Europäertum nur bestärkt.

Als das Bild meiner ersten Begegnung mit Gandhi publiziert wurde, spottete Hermann Keyserling, mit dem ich durch Heirat in eine weitläufige verwandtschaftliche Beziehung getreten war, mein Blick sei weniger auf den berühmten Orientalen an meiner Seite als nach Westen gerichtet.

Unsere Konkurrenz war wieder mal schneller

Durch eine Indiskretion, wie sie zwischen den großen Berliner Zeitungshäusern vorkam, hatte man beim »Völkischen Beobachter« von der Absicht des Scherl-Verlages erfahren, mich nach Indien zu entsenden.

Bei der scharfen Konkurrenz zwischen unseren Blättern beschlossen die »V.B.«-Leute, mir zuvorzukommen. In aller Heimlichkeit rüsteten sie ihren Chefreporter, Roland Strunck, mit Empfehlungen aus der Reichskanzlei aus und schickten ihn, während ich noch mit den Vorbereitungen beschäftigt war, auf die Reise. Jetzt war höchste Eile geboten.

Strunck hatte auf einem italienischen Postdampfer gebucht. An dem Tage, da er in Bombay indischen Boden betrat, bestieg ich in Leipzig ein holländisches Flugzeug, um ihn einzuholen. Die KLM bediente damals ihre Südostasien-Route mit DC-3-Maschinen, die bis Indien etwa drei Tage benötigten.

Ein gebürtiger Österreicher, ehemaliger Offizier, gut aussehend, von gewandtem Auftreten, schrieb Strunck eine glänzende Feder, die ihm die Gunst Hitlers gewonnen hatte. Ohne es eigentlich zu wollen, war er in die Rolle eines Regierungsjournalisten hineingewachsen, die er mit Eleganz versah.

Das Rennen zwischen Hase und Igel begann

Unsere Indien-Tour begann wie das Rennen zwischen Hase und Igel. Wo immer ich eintraf, war Strunck schon gewesen. In Bombay verließ er das Taj-Mahal-Hotel in dem Augenblick, als ich dort abstieg. Er traf Gandhi vor mir und hatte sich in Delhi umgesehen, als ich dort meine ersten Kontakte aufnahm.

In Simla endlich erwischte ich ihn. Bis dahin hatte Strunck nicht einen einzigen Bericht nach Berlin geschickt. In der indischen Sommerhauptstadt wollte er alles nachholen und sich am Schreibtisch vergraben.

Es kam anders. Bevor er die Feder aufs Papier setzen konnte, traf ihn der Pfeil Amors. In Simla begegnete Strunck der Frau eines englischen Kollegen, in die er sich unsterblich verliebte. Ein Mann an der Schwelle der fünfzig, ergriff ihn die Leidenschaft mit solcher Gewalt, daß er zu keiner Arbeit mehr fähig war.

Der Liebhaber setzte den Journalisten matt. Als Strunck Wochen später Indien verließ, hatte er keine Zeile geschrieben, während von mir alle paar Tage eine großaufgemachte Reportage erschien. Die Redaktion des »Völkischen Beobachters« tobte und dirigierte Strunck nach Abessinien. Von dort zurück, fand er in einem Duell ein tragisches Ende.

Über die Geographiekenntnisse der Engländer

Am ersten Flugtage sollten wir in Athen übernachten. Über dem Balkangebirge stießen wir auf eine Gewitterfront, die unseren zweimotorigen Eindecker »Ibis« zur Umkehr und Landung in Üsküb zwang.

Von den zwölf Fluggästen war ich der einzige, der wußte, wo wir uns befanden. Die anderen, unter ihnen hohe britische Regierungsbeamte und Offiziere, die von ihrem Europaurlaub nach Indien zurückkehrten, tippten auf Polen und Austria. Einer brachte sogar Austria und Australia durcheinander.

Von Jugoslawien hatte noch nicht einmal Mr. C. gehört, der in Indien fünfundvierzig Maharadscha-Staaten beaufsichtigte. Die Militärs, denen der Flugplatz in Skoplje unterstand, wie die Südslawen Üsküb nannten, bewirteten uns bei Zigeunermusik mit gefüllten Kürbissen, Rostfleisch am Spieß, kandierten Trauben und Schiller-Wein.

Die DC3 konnte nur kleine Entfernungen meistern

Über Athen, Rhodos, Alexandria, Gaza, Haditha und Bagdad erreichen wir am Abend des zweiten Flugtages Basra. Die Organisation des Fluges ist perfekt. An Bord werden wir mit Sandwiches und heißen Getränken aus Thermosflaschen versorgt.

Bei jeder Zwischenlandung steht am Boden eine warme Mahlzeit bereit, gibt es die Möglichkeit, zu baden oder zu duschen. Am dritten Tag geht es über Bushire nach Djask, der letzten Etappe vor Indien.

Die Maschine nimmt Kurs auf ein winziges Eiland zwischen Wüstenrand und Tropenmeer. Zwei Lehmbaracken, in denen man Tee bereithält, nehmen uns auf. Teppiche und Haifischgebisse zieren die Wände. Die Hitze ist mörderisch, die Starts werden schwerer. Das Meer leuchtet so blau, daß es den Augen weh tut. Wir verdunkeln die Bullaugen und greifen zur Fliegenklatsche. Ein Halt in Karatschi, dann sind wir in Jodpore, im Herzen von Rajputana. Unsere kleine Reisegesellschaft geht auseinander, nur wenige setzen den Flug nach Insulinde fort.

Das mit dem Flugzeug war damals absolut neu

Im Jet schließt man gewöhnlich keine Bekanntschaften. Damals war das anders. Als Beförderungsmittel kam das Flugzeug eben erst auf. Wer es benutzte, ging ein Risiko ein, freilich anderer Art als heute, da Entführungen von Luftfahrzeugen die Regel geworden sind.

Man hing vom Wetter ab, die Tücken der Technik waren keineswegs überwunden, Piloten galten als Pioniere, die Passagiere als eine Gefahrengemeinschaft. Man sprach miteinander und wußte nach drei Tagen, mit wem man flog.

In 72 Srtunden fast um die halbe Welt

An einem kühlen regnerischen Junimorgen 1937 war ich in Deutschland aufgebrochen. 72 Stunden später glich ich einer Maus, die in einen kochenden Waschzuber gefallen war. Am liebsten hätte ich auf der Stelle kehrtgemacht, so sehr machte mir die Hitze zu schaffen.

Dem Rat eines Reisegenossen folgend, der seit 18 Jahren in Indien lebte, verließ ich während der ersten drei Tage mein Hotelzimmer nur zu den Mahlzeiten. Ich lag nackt auf meinem Bett, über mir ein zurückgeschlagenes Moskitonetz und ein sich majestätisch drehender Propeller, der für ein Lüftchen sorgte.

Klimaanlagen gab es damals nur in den Speisesälen von ein paar großen Hotels mit dem Ergebnis, daß man dem Essen stärker zusprach, als man in der hohen Temperatur draußen verarbeiten konnte.

Am zweiten Tag nach Sonnenuntergang

Am zweiten Tage wagte ich mich nach Sonnenuntergang in den Hotelgarten, am vierten Tag hatte ich mich so weit akklimatisiert, daß ich einen Gang zum Fort von Jodpore wagen konnte. Am Eingang hielt mich eine Tafel auf. Sie verkündete in englischer Sprache: »Seine Hoheit Oberstleutnant Raj Rajeshwar Saramad Rajai Hind Maharaja Dhiraj Sri Sir Umaid Singhji Sahib Bahdur, G. C. I. E., K. C. S. J., K. C. V. O. haben gnädigst geruht anzuordnen, daß der Besuch der inneren Höfe dieses Palastes Europäern in kurzen Hosen und Kniestrümpfen nicht offensteht, daß Männer, die an einem Leichenbegräbnis teilgenommen haben, erst nach dem Sonnenuntergang vor dem Tore erscheinen dürfen und daß es Frauen, gleich welcher Kaste, verwehrt bleibt, auf dem Gelände der Festung Kindern das Leben zu geben.«

Zwanzig weitere Instruktionen dieser Art auf englisch und auf rajputani flankierten den Weg ins Fort. Sie erfüllten den gleichen Zweck wie der im Berliner Schloß am Weißen Saal angebrachte Hinweis, der das Betreten des Parketts nur in Filzpantoffeln zuließ. Die Schatzkammer, deren Ruf mich hergeführt hatte, blieb verschlossen.

Juwelen im Wert von einigen Millionen Rupien sind verschwunden

Während der Fürst zu den Krönungsfeierlichkeiten für Georg VI. in London weilte, hatte man das Verschwinden von Juwelen im Wert von einigen Millionen Rupien bemerkt, die von der Regierung Jodpores durch Aufrufe in indischen Zeitungen gesucht wurden.

Ich schreibe mich in das Besucherbuch ein, der Fürst bleibt unsichtbar. Den Namen seines Landes haben Reithosen, die man mit Halbschuhen kombinieren kann, um die Welt getragen. Ein Zeremonienmeister empfängt mich, Türsteher mit Ebenholzstäben öffnen eine Halle, die mit englischen Jagdstichen geschmückt ist; der Federhalter, der mir gereicht wird, ist aus Gold.

Der Maharadscha liebt die Fliegerei, sein Flugplatz ist der modernste in Indien. Für die Abholung der Hotelgäste hat der Herrscher der Flughafenverwaltung den roten Mercedes Nürburg seiner Gemahlin zur Verfügung gestellt.

Die ersten Eindrücke von Indien und den Fürsten

Abends sitzen wir auf dem Rasenrondell vor dem Hotel bei Eisgetränken. Reich ist kein Europäer hier. Jodpore verfügt über das beste Polo-Team in Indien. Die Europäer können sich das Mitspielen nicht leisten. Den teuren Sport treiben der Fürst und die Adligen an seinem Hofe. Sie üben ihn jeden Nachmittag aus, die Europäer begnügen sidi mit Kricket. Indien, so erfahre ich, ist das gesündeste Land der Erde, wenn man sich ausreichend Bewegung macht.

»Verkehren Sie mit dem Maharadscha?«, frage ich meine Bekannten. Sie schütteln den Kopf. Sie halten den Fürsten für einen reizenden, netten Mann. Aber: »His Highness always remains His Highness1.« Er liebt die Menschen nicht, und seine englischen Berater bekommen ihn oft tagelang nicht zu sehen. Seine Hoheit herrscht, aber regieren tun sie.

Das Verhältnis zwischen den Engländern und den indischen Fürsten

Wollte man das Verhältnis zwischen den Engländern und den indischen Fürsten charakterisieren, so ließe sich sagen, in dem Maße, in dem sie den Prinzen noch mehr Sinn für Feudalität einimpfen, nehmen sie ihnen die wirkliche Macht. Es gibt eine Broschüre über Jodpore. Sie ist in englischer Sprache gehalten und mit Beschreibungen über die Geschichte des regierenden Hauses, über die heraldische Bedeutung des Wappens von Jodpore (den ganz unindischen Begriff des Wappens) gefüllt.

Ein Faltblatt zeigt den Stammbaum des Herrschers. Er könnte Burkes Peerage oder dem Gothaischen Kalender entnommen sein. Man blättert und blättert und vertieft sich in die Meriten Seiner Hoheit und deren erlauchter Ahnen. Dann stößt man auf die letzte Seite, die meist übersehen wird. Sie verzeichnet die Namen von 63 britischen Offizieren, die Namen von 63 Männern, die seit 1839 die Hoheiten von Jodpore »beraten«. Unter den vielen Palästen der Hauptstadt beherbergt einer die »Residency«. Hier waltet der britische Resident seiner Prärogative. Sie werden so gut wie niemals angewendet, und darin liegt ihre Stärke.

Ein wahres Grundgesetz der Menschheit von den Engländern

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Menschen lenken, heißt, ihnen Illusionen lassen.

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Der Resident ist der Vertreter der englischen Krone

Jeder britische Resident hält sich an diesen Grundsatz. Ergibt dem Fürsten, was des Fürsten ist, einen Teil der Staatseinnahmen, die Pracht und das Polo, die Elefanten und die Frauen, die Juwelen und die Kleider aus goldenem und silbernem Brokat, das Zeremoniell und den Ehrensalut.

Nur eine Kleinigkeit behält sich der Resident vor: die politischen Entscheidungen.
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Das Essen gibts jeweils auf den Bahnhöfen

Von Jodpore nach Ahmedabad benutze ich die Bahn, einen indischen Zug, in dem ich dreizehn Stunden verbringen soll. Seine mit Aluminiumfarbe gestrichenen Waggons tragen mich 600 Kilometer durch Sandsteppen, die der Glut eines gnadenlosen Himmels ausgesetzt sind. Ich liege dösend in meinem Abteil, dessen Rolladen gegen die Sonne und dessen Drahtgitter gegen Insekten, aber nicht gegen den Staub schützen, der durch alle Ritzen dringt und mich mit einer Schicht rötlichen Puders bedeckt.

Auf jeder größeren Station wird das Eis in der zu meinem Coupe gehörenden Kühlkiste erneuert, versorgt man meine Thermosflasche mit frischem Tee. Wer erster Klasse reist, hat Anspruch auf einen Aufenthaltsraum, in dem nachts eine Schlafstatt gerichtet und mit dem Bettzeug bezogen wird, das jeder Reisende mit sich führt. Dienerzimmer und Kofferkammer gehören zu meinem Compartement.

Einen Speisewagen führt der Zug nicht. Ich gebe dem Schaffner meine Wünsche für das Mittag- und Abendessen auf, die er an die Bahnhöfe telegrafiert, auf denen ein längerer Halt eingelegt wird. Dort erscheinen Kellner mit einem Tischleindeckdich und warten mir wie in einem Separee auf.

Das Wunder der indischen Bahnen

Je tiefer ich in Indien eindringe, desto mehr erschließt sich mir das Wunder der indischen Bahnen, deren Geschichte so dramatisch ist wie die der trunk-lines in den Vereinigten Staaten und der Schienenwege im zaristischen Rußland.

Die Wagen laufen auf einer sehr breiten Spurweite von 5 Fuß und 6 inches, die so großzügig berechnet wurde, um die Züge gegen Zyklone widerstandsfähiger zu machen. Das indische Bahnnetz beförderte 1937 eine halbe Milliarde Menschen jährlich, unter ihnen 2,8 Millionen blinde Passagiere.

Als einem Instrument britischer Herrschaft haben die indischen Nationalisten den Bahnen den Kampf angesagt. Gandhi möchte sie abschaffen, seine jüngeren, moderner denkenden Gefolgsleute wünschen ihre »Indianisierung«.

Die indischen Bahnen - absichtlich in europäischer Hand

Allein in den Fürstenstaaten ist man anderer Auffassung. Die Maharadschas glauben, daß die Bahnen nur Gewinne abwerfen können, wenn sie von Europäern geleitet werden. In Ahmedabad reißen sich 100 Menschen darum, meine Koffer zu tragen. Zum Glück entdecke ich meinen Gastgeber in diesem Gewühle.

In Smoking und schwarzem Schlapphut hält Findlay Shirras, der schottische Rektor des Gujarat-College, nach mir Ausschau. Ich habe ihn im Flugzeug kennengelernt. In Ahmedabad, das eine halbe Million Einwohner zählt, ist er einer von achtzig Europäern, als Haupt des »Education Service« im Rang dem »District Commissioner«, dem Garnisonsbefehlshaber und dem Polizeichef gleichgeordnet.

Seine Diener bergen mein Gepäck. Eine halbe Stunde später bin ich in den Haushalt des Rektors eingeschleust, erhole mich im Bad, höre die Grillen zirpen und genieße die frische Nachtluft, die unter den hochgezogenen Bambusmatten in mein Zimmer dringt.

Meine Kleidung findet keinen Anklang

Am anderen Morgen inspiziert der Rektor meinen äußeren Aufzug. Seinem spöttischen Lächeln ist zu entnehmen, daß irgend etwas mit mir nicht stimmt. Eine Stunde später beginnt er stotternd eine Rede, aus der ich entnehme, daß er mir einiges sagen möchte, was auszusprechen ihn sein Taktgefühl hindert.

Ich ermutige ihn, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, und erfahre, daß meine Shorts verschnitten sind, daß mein Jackett dem hiesigen Standard nicht entspricht, daß mein Tropenhelm eine Form hat, wie sie in Indien eingeborenen Polizisten vorbehalten ist.

Alte falsche Vorgaben des Armee-Marine-Hauses in Berlin

Kurzum, daß ich nicht damit rechnen kann, in diesem Kostüm Eingang in die Häuser der britischen Herrenschicht und der eingeborenen Potentaten zu finden. Ich begreife sofort. Meine Equipierung hat das Armee-Marine-Haus in Berlin geliefert, das sich auf tropische Ausrüstungen spezialisiert, die den Bedürfnissen der ehemaligen deutschen Kolonien in Ost- und Südwestafrika entsprechen.

Es handelt sich um Modelle, die seit dem Hottentottenaufstand nicht mehr geändert wurden.

In Indien trägt man das etwas anders.

Es bleibt mir nichts anderes übrig, als mich der tropischen Eleganz der Briten anzupassen oder mich mit der Rolle einer Schießbudenfigur abzufinden. Findlay Shirras führt mich, froh, das für ihn Peinliche, für mich unendlich Nützliche losgeworden zu sein, in den Army-Navy-Store, der in jeder größeren indischen Stadt die Beamten und Offiziere Seiner Britischen Majestät mit allem versorgt, was das Image des Gentleman verlangt.

Drei Maßschneider machen sich an mir zu schaffen. Am anderen Tage schon bin ich so ausstaffiert, daß sich der Rektor nicht länger mit mir zu genieren braucht und mich in seinen Freundeskreis einführen kann.

Jeden Morgen Nachhilfeuntericht und ich bekomme einen Schatten

Allmorgendlich hält Findlay eine solche Lektion für mich bereit. Er bedeutet mir, daß ein Europäer meines Ranges sich nicht ohne Kammerdiener in Indien bewegen könne. Die Sorge für seine Wäsche und Schuhe, Besorgungen der Kleinigkeiten des täglichen Lebens, die Entlohnung von Trägern und Taxis überlasse der Gentleman einem eingeborenen Domestiken, der ihm zugleich als Dolmetscher diene.

Auch diesen Rat befolge ich ohne Zögern. Findlay verständigt das Reisebüro von Thos. Cook, das wie der Army-Navy-Store den Engländern in Indien das Leben erleichtern hilft. Drei Kandidaten melden sich. Findlay wählt den vertrauenswürdigsten aus. Ich vernehme, daß man mit Dienern, die Tinos. Cook & Co. anbieten, fast niemals hereinfällt. Die Jobs sind hochbegehrt.

Wer sich nicht bewährt, der Agentur keine erstklassigen Zeugnisse vorweisen kann, wird von Cook nicht mehr vermittelt. Findlay hat gut gewählt. Er besorgt mir einen Diener und damit einen Schatten, der an mir haften wird, wohin ich mich auch in Indien begebe.

Mein Schatten heißt Krishna

Krishna erhält einen Monatssold von 80 Reichsmark, von dem er sich selbst verpflegen muß. In den Herbergen wird er vor meiner Zimmertür neben meinen Schuhen sein Nachtlager aufschlagen und von Millionen beneidet werden, die auf dem Trottoir nächtigen.

Er wird um sieben Uhr früh den »early morning-tea« ans Bett bringen, mich baden und mich anziehen. Wenn die Sonne sinkt, wird er meinen Tropenhelm tragen und meinen Eichenstock schwingen, um Bettler abzuweisen. Er wird im Zeltlager von Waziristan mein Bett aufschlagen.

Nachdem wir den Indus überschritten haben, wird er sich eng an mich halten. Wie alle Hindus fürchtet er die Männer des Nordens.

Er wird mich betrügen, etwa zehn Prozent bei Einkäufen für mich aufschlagen und sich damit im Rahmen des von Thos. Cook & Co. Genehmigten halten. Er wird niemals über seine Familie zu mir sprechen noch verraten, ob er überhaupt ein Privatleben hat.

Und eines noch fernen Tages wird er mich in Colombo aufs Schiff bringen und den weißen Sahib einem Steward des Norddeutschen Lloyd übergeben. Der Sahib wird ihn mit einem reichlidien Obolus und einem seine Vorzüge preisenden Brief an Thos. Cook & Co. verabschieden. Krishna wird feuchte Augen bekommen und zurücksinken in die indische Unendlichkeit, aus der ihn der Dienst bei einem Europäer herausgerissen hat.

Der weiße Mann hat die Kunst des Dienens verlernt

Der Sahib aber wird sich in der ersten Klasse des Lloyd-Dampfers vorkommen, als sei er unter die Wilden gefallen, die kalte Courtoisie seines Kabinenstewards und die glatte Höflichkeit an Deck werden ihn nicht darüber täuschen, daß der weiße Mann die Kunst des Dienens verlernt hat und »the lure of the East« (»der Zauber des Orients«) auch von Kreaturen ausgeht, die den Dienst am Menschen als einen Beruf verstehen, dem mehr Würde innewohnt als jedem anderen.

Es gibt aber sonderbare Ausnahmen bzw. Absurditäten

Nur einmal während so vieler Monate in Indien sollte Krishna mich im Stich lassen, und das in einem Augenblick, da ich seiner am notwendigsten bedurft hätte. In Bangalore traf mich ein Sonnenstich und fesselte mich mit hohem Fieber ans Bett. Ich konnte das Bad nicht aufsuchen und mußte ein Nachtgeschirr benutzen.

Krishna weigerte sich, es zu entleeren. Ich befahl ihm, einen Sweeper zu rufen, die in Indien aus der Kaste der Unberührbaren rekrutiert wurden und ihr Monopol, Latrinen zu reinigen, eifersüchtig hüteten. Krishna schüttelte den Kopf.

Das Nachtgeschirr müsse an seinem Ort verbleiben. Er selbst stehe im Range zu hoch, um es hinauszutragen, der Sweeper zu tief, um in mein Zimmer eindringen zu dürfen. Mein Fieber maß 40 Grad.

Gleichwohl blieb mir nichts anderes übrig, als selbst zu besorgen, was Krishna und dem Sweeper nicht zu tun erlaubt war!

Wenn Nachts die Schlangen zu Besuch kommen

Allabendlich geleitet mich der Rektor zur Nachtruhe. Er ermahnt mich, meine Pantoffel umzudrehen, bevor ich hineinschlüpfe, und meine Bettdecke zu lüften, bevor ich mich niederlege.

Die Nacht ist kühl, und Schlangen aus seinem Garten suchen die Wärme des Hauses. Sie kriechen durch die Abflußröhren der Bäder und machen es sich in den Schlafzimmern bequem.

Am gefährlichsten ist die nur wenige Zentimeter lange Krait, die vierzehnmal giftiger als die Kobra sein soll. Man übersieht sie leicht, wenn sie sich in Schuhen oder in den Falten der Bettdecke verbirgt. Findlay tröstet mich, daß es in Indien zwei Sorten von Europäern gebe. Die einen lebten dort seit Jahrzehnten und hätten noch nie eine Schlange zu Gesicht bekommen, die anderen seien erst 14 Tage dort und behaupteten, bereits mehrere Schlangen in ihren Wohnungen getötet zu haben. Beiden dürfe man glauben.

Über die Wirksamkeit von Schlangegift in Indien

Findlay ist ein Schlangenliebhaber. Abends spaziert er mit seiner Frau am Flußufer und beobachtet Pythons und Vipern in der Dämmerung. K. V. Kamal, der neunundzwanzigjährige Sekretär des Haffkin-Instituts für Serumforschung in Bombay, erzählt mir, daß auch die Angst vor Schlangen töten kann. Wenn Leute mit Schlangenbiß schon auf dem Wege ins Hospital das Bewußtsein verlieren, so sind die indischen Arzte sicher, dnß ihr Gebissensein auf Einbildung beruht oder die Verletzung von keiner Giftschlange herrührt.

Ich erfahre, daß das Gift der Kobra von unten beginnend den Körper allmählich lähmt, die Lippen versiegelt, die Sprache nimmt, das Herz des Betroffenen aber bis zuletzt intakt läßt. Es gibt Schlangenopfer, die, ohne vergiftet worden zu sein, aus Furcht vor den Wirkungen des Giftes sterben. Andere gehen daran zugrunde, daß sie nicht anzugeben vermögen, von welcher Schlange sie angegriffen wurden.

Das in Kasauli, am Fuße des Himalaja gewonnene Sammelserum »Antivenene« hilft nur gegen die Bisse von Kobras und Russelvipern. Eine Kobra führt in ihren Giftzähnen bis 120 Milligramm des tödlichen Stoffes, genug, um zehn Menschenleben zu zerstören. Für jeden Biß verbraucht sie etwa 17 Milligramm, die einen Menschen in sechs bis achtzehn Stunden umbringen. Die Russelviper benötigt für die gleiche Wirkung 23 Milligramm.

Seeschlangen hält Mr. Kamal für neunmal so giftig wie Kobras. Ungiftige Pythons werden in seinem Institut auch als Haustiere gehalten. Sie liegen auf den Schreibtischen und schauen zu, wie die Wissenschaftler ihre Formeln zu Papier bringen. Mein Gastgeber, der an solchen Geschichten seinen Spaß hat, fügt hinzu, daß die tierliebende Sekte der Jainas gefangene Schlangen, die gegen Belohnung auf Missionsstationen abgeliefert werden, nachts wieder in Freiheit setze.

Wie Inder mit meinem Fehltritt lächelnd umgehen

Das Glück bleibt mir gewogen. Ich werde keine Schlange in Indien zu sehen bekommen.

An einem Sommermorgen verlasse ich den Zug in Wardha, einem Landstädtchen in Zentralindien, das Gandhis Kongreßpartei als Tagungsort gewählt hat. Es gibt dort kein Gasthaus für Europäer, sondern nur einen »Dak-Bungalow«, in dem britische Regierungsbeamte auf ihren Dienstreisen zu nächtigen pflegen.

Indien ist mit einem Netz solcher Unterkünfte überzogen. Sie werden von eingeborenem Personal instand gehalten, das dem Reisenden auch Mahlzeiten serviert. Ich schicke meinen Diener zur Erkundung der Örtlichkeit vor. Nach wenigen Augenblicken kehrt er mit Zeichen des Entsetzens zurück. Das Haus ist von indischen Politikern besetzt. Ich mache mich auf und erblicke ein Dutzend Parlamentarier auf ihren Ruhestätten. Ich bedeute ihnen, daß nach nicht außer Kraft gesetzten Bestimmungen »Dak-Bungalows« Europäer mit Vorrang aufzunehmen haben, und bitte sie, wenigstens einen Raum für mich freizugeben.

Kaum habe ich meine Rede beendet, als sich die würdigen Herren schon aufmachen, um sich mit Entschuldigungen zu empfehlen. Sie seien von meiner Ankunft nicht verständigt worden. Mit der Herablassung des weißen Sahib danke ich ihnen und setze mich zu einem ausgiebigen Frühstück nieder.

Eine Stunde später wird mir bewußt, was ich angerichtet habe. Ich erscheine am Tagungsort und sehe lauter Gesichter, die ich aus dem »Dak-Bungalow« vertrieben habe. Die Inder bemerken meine Verlegenheit und lächeln. Sie lassen mich in keiner Weise mein rüdes Benehmen entgelten.

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