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Eduard Rheins Buch über sein Leben (1990)

Der langjährige Chefredakteur der HÖRZU schreibt über sein Leben, seine Jugend, seine Zeit in Berlin bis 1945, den Wiederanfang 1946 und die Zeit im Springer-Verlag in Hamburg. So sind es fast 480 Seiten, bei uns im Fernsehmuseum etwa 120 Kapitel, in denen so gut wie alle "Größen" dieser Zeit vorkommen. Und er schreibt als 90jähriger rückblickend über die Zeit und sich selbst. Darum lesen Sie hier natürlich seine Sicht der Ereignisse bzw. "seinen Blick" teilweise durch die "rosarote Brille". Das sollte man beachten und verstehen. Die Inhaltsübersicht finden Sie hier.

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Kapitel 15
1919 - Jetzt wirds ernst

Mit diesen täglichen Bahnfahrten hatte für mich der Ernst des Lebens begonnen - so glaubte ich ein bißchen wehmütig. Und als ich zum erstenmal die Firma am Marienplatz betrat, schien mir das wie ein Abschied von der Jugend. Doch wie sich zeigen sollte, wurde gerade dieses Jahr - mein letztes Jugendjahr - für mich eines der schönsten.

Oberingenieur Tillmann

Herr Leser überreichte mich ohne feierliche Reden seinem Oberingenieur. Er hatte sein Büro in einer Ecke des großen Ausstellungsraumes, in dem Hunderte von Kronleuchtern aller Art an langen Drähten von der Decke hingen, und hieß Tillmann oder Zingelmann oder so ähnlich ... Hier läßt mich mein Gedächtnis im Stich. Unverständlich angesichts der Tatsache, daß gerade dieser Mann sich wie kein anderer in der Firma um mich gekümmert, mich immer wieder an neue Aufgaben und Arbeitsgebiete herangeführt und auch meine dümmsten Fragen mit wahrer Engelsgeduld beantwortet hat.

Hier wurde nur Kölsch gesprochen

Er war ein sehr gebildeter Fachmann - und sprach zu meinem Erstaunen Dialekt. Das wollte aber nichts heißen in einer Stadt, in der das selbst unter gebildeten Menschen von Rang so üblich war und wohl zeigen sollte, daß man >unter sich< war... Was andererseits dazu führte, daß Auswärtige nicht selten bissig vom >Kölschen Klüngel< sprachen ...

Es ging auch sofort los

Kaum daß Herr Tillmann - nennen wir ihn so - mich vereinnahmt hatte, klingelte das Telefon. In einer Schraubenfabrik war ein Motor ausgefallen. Der Betrieb stand, denn dieser eine Motor trieb über drei an der Decke hängende lange Achsen, die sogenannte Transmission, wohl ein Dutzend Maschinen der verschiedensten Art. Große und kleine.
»In einem Achtzigmannbetrieb stehn alle Räder still!« Tillmann sprang auf. »Los - nichts wie hin!«

Ich blieb sitzen. »Los, los!« riß er mich mit. »Da kannst du gleich was für dein Leben lernen!«

Aha!

Taxis, Firmenwagen gab es damals noch nicht. Und es war auch nicht allzu weit. Wir stapften los. Tillmann schimpfte: »Seit Jahren predige ich diesem Idioten, er soll den großen Motor wegschmeißen und auf Einzelantrieb umschalten. Aber nein ... Jetzt hat er den Salat!«

Wenn achtzig Arbeiter drehen

Der >Idiot< rang verzweifelt die Hände, achtzig Arbeiter drehten Däumchen. Tillmann ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. »Was hier los ist, riecht man ja hundert Meter gegen den Wind, so stinkt's hier nach Ampere!« Damit stürmte er auf die große, verwahrlost aussehende Schalttafel zu.

»Alles Murks! Und natürlich - da ham wir's ja - die Motorsicherungen mit fingerdicken Kupferdrähten geflickt!« Der große Motor stand in einer dunklen Ecke, aber Tillmann würdigte ihn keines Blicks. Klar, er war maßlos überlastet worden.

Wenn ein Chef bibbert . . .

Der Fabrikbesitzer bibberte. »Und was nun?«

»Der Motor muß raus und der Rotor in der Werkstatt neu gelötet werden. Dauert mindestens eine Woche.«

»Dann könnte ich meinen Laden dichtmachen!«
»Werden Sie wohl müssen, wenn Sie für Ihre Jungs nicht eine andere Arbeit finden. Aber zu Ihrem Trost: Einen Teil der Transmissionswellen hängen wir provisorisch an einen kleineren Motor von unserem Lager. Und im übrigen meine alte Leier: Einzelantrieb. Jeder Maschine ihren eigenen angepaßten Motor.«

Ich mußte alles machen, immer und überall

So turbulent hat es für mich bei Leser &c Co angefangen. Es war immer viel los, und Tillmann stand samt seinem >Volontär< stets mittendrin.

Mal mußte ich 600 Enden von Starkstromlitze abisolieren, die feinen Drähte verdrillen und verzinnen, mal mußte ich eine große Marmortafel mit Meßinstrumenten, Sicherungselementen und Anschlußklemmen bestücken, die Löcher bohren und das Ganze auf der Rückseite mit Zinkschienen - Kupfer gab's nicht - zusammenschalten, mal mußte ich in der großen alten, von den Engländern besetzten Kaserne Löcher durch halbmeterdicke Mauern für die elektrischen Leitungsrohre stemmen und Schalter und Steckdosen montieren, mal mußte - nein durfte - ich die ersten Kostenvoranschläge ausarbeiten.

Neue und alte Häuser, von denen die Grundrisse vorlagen und für die nun die elektrische Installation geplant, errechnet und zum Kostenvoranschlag verarbeitet werden mußte.
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Die reine Denkarbeit lag mir sehr

Das war eine Denkarbeit, das lag mir mehr. Ich lernte es im Handumdrehn. Meine Kostenvoranschläge passierten unbeanstandet die mitleidslosen Augen Tillmanns und die kühl rechnenden Augen des hohen Chefs.

Ein neues Buch - über elektromagnetische Wellen

Eines Tages fand ich auf dem Arbeitsplatz von Tillmanns ein neues Buch, das sofort meine höchste Aufmerksamkeit erregte. Es war ein sehr sachlich geschriebenes und schwer lesbares Werk über die praktische Verwendung elektromagnetischer Wellen.

Das von dem Heinrich Hertz hatte ich doch schon mal gehört

Der Begriff elektromagnetische Wellen war mir nicht neu. Wir hatten im Physikunterricht gelernt, daß ein gewisser Heinrich Hertz 1888 entdeckt hatte, wie man solche Wellen erzeugen, sie aussenden, empfangen und verstärken konnte, und daß der Italiener Marconi sie schon 1896 zur drahtlosen Nachrichtenübermittlung verwendet hatte. Hochinteressante Versuche, aber zunächst noch ohne jeden praktischen Wert - so schien es.

Ich las das Vorwort, ich las und las und vergaß darüber den großen Kostenvoranschlag, der überarbeitet werden mußte, weil uns die Konkurrenz mit einem billigeren Angebot zunächst aus dem Rennen geworfen hatte. Also billigere Lösungen vorschlagen, alles neu rechnen und die Zeichnung ändern.

Tillmann war bei en "Funkern"

Tillmann überraschte mich bei den Wellen statt bei dem Kostenvoranschlag, an dem ich ohnehin die Lust verloren hatte. Noch mehr überraschte er mich aber mit der Tatsache, daß er im Krieg bei den >Funkern< gewesen sei.
Funker, hat's denn so was gegeben?

Geräte der Firmen Telefunken und Dr. Erich F. Huth

Und nun erfuhr ich, daß man dieses technische Mittel schon während des Krieges zur Verständigung zwischen den Truppenverbänden eingesetzt hatte.

»Wir hatten Sender und Empfänger von der Größe kleiner Handkoffer. Robuste Geräte der Firmen Telefunken und Dr. Erich F. Huth. In den Sendern zischten Funken zwischen versilberten Platten, und in den Empfängern saßen vier Verstärker röhren mit rotlackierten Köpfchen. Die waren besonders gut und brauchten weniger Strom. Wir nannten sie Rotkäppchen. Die Apparate haben sich hervorragend bewährt.«

Drahtlose Telegrafie in den Schützengräben?

War die Technik heimlich schon so weit gediehen? Ich konnte es nur schwer glauben. Die Zweifel schwanden aber rasch beim gemeinsamen Durchblättern des Buches: Da waren sie abgebildet und beschrieben. Und jetzt erst fiel mir ein: Zwei dieser Geräte lagen ja zu Hause in meinem Kleiderschrank!

An diesem Nachmittag taten Tillmann und ich nichts mehr im Kampf gegen die Konkurrenz. Tillmann, der Funker, schilderte mir wahre Wunderleistungen der kleinen Geräte. Ich glaube, ich habe selten so erstaunte Augen gemacht. Mich hatte eine Technik gepackt, die mich mein Leben lang nicht mehr loslassen sollte.

Kapitel 16
Rauschgift Musik

Was die geschäftlichen Turbulenzen betraf, denen ich ausgesetzt war, so fand ich bald einen Trost: Ich kam morgens in der >Hohe Straße< an dem wiedereröffneten Laden von Stollwerck vorbei. Da gab's ab und zu die ersten Packungen mit >Schokolade-Guts<. Und dicht am Weg lag auch der Musikverlag Tonger. Dort holte ich mir ab und zu ...

Aber da muß ich ein bißchen weiter ausholen:
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Ich war achtzehn und ich war kein Kind mehr

An dem Tag, an dem ich mich schweren Herzens entschlossen hatte, auf das Studium der hehren Dichtkunst zugunsten einer niederen Wissenschaft zu verzichten, mußte ich meinen Geigenunterricht aufgeben, denn Berufsmusiker wollte ich nicht werden, und weiterhin täglich Etüden, Sonaten und Sonatinen zu fiedeln, Doppelgriffe und Flageolett zu üben - nein, das ging über meine Kraft. Ich hatte das Geigenspiel erlernt - beinahe schon zuviel für das tägliche Leben. Es reichte, es reichte. Wozu auch diese blendende, eiskalte Technik?

Nicht, daß ich nun meine Geige an den Nagel gehängt hätte, aber ich war achtzehn, ich war kein Kind mehr, der Krieg war zu Ende.

Musik von Halbwilden, von Negern oder Irren?

Und aus den >Blue-Bars< der Besatzungssoldaten drangen ab und zu neue Klänge. Musik von Halbwilden, von Negern oder Irren? War das überhaupt Musik? Und dann wieder rissen Virtuosen wie der Spanier Pablo Sarasate und der Tscheche Jan Kubelik mit ihrer Technik Tausende zu Beifallsstürmen hin. Bloß mit ihrer Technik?

Ich hatte bis dahin nicht einen von ihnen gehört... Wohl aber die weltberühmte Serenade des Pianisten und Komponisten Enrico Toselli. Seine Ehe mit der Kronprinzessin Luise von Sachsen, die sich 1903 seinetwegen hatte scheiden lassen, ihn 1907 heiratete und sich 1912 wieder von ihm trennte, erregte weltweites Aufsehen.

Also dann Tanzunterricht

Seine Serenade war kein technisches Bravourstück, aber an Popularität ist sie von keiner Serenade je übertroffen worden. Auch der schlechteste Kaffeehausgeiger erntete mit ihr stürmischen Applaus.

In dieser Zeit wurde ich in meinem Verhältnis zur Musik irre. Mama meinte eines Tages, nun müßten meine ein Jahr jüngere Schwester und ich Tanzunterricht nehmen. - Warum nicht?

Tanzunterricht ? Eine Art Sport mit Musik.

Aber was waren das für seltsame Rhythmen, die der Klavierspieler dem grausam verstimmten Klavier entriß? Woher kamen diese neuen Melodien? Foxtrott, One-Step, Two-Step, Ragtime, Jazz, Hiawatha und vor allem der so sanft dahinfließende English-Waltz.

Jede Woche ging ich nun einmal zu Tonger und kaufte mir die Klaviernoten der neuesten Tanzschlager, obwohl ich selber nicht Klavier spielen konnte und meine Schwester sich immer noch mit dem Gebet einer Jungfrau und Ingrids Klage abmühte.

Um die gekauften und schon bei der Heimfahrt eifrig studierten Noten zum Klingen zu bringen, brauchte ich einen Klavierpartner.

Josef, genannt Jupp, mein Klavierpartner

Den gab es, und der hätte auch brennend gerne mitgemacht, aber er war der sehr ehrsame, peinlich korrekt erzogene Sohn des - Schuldirektors.

Wir nannten ihn Jupp; sein Vater rief ihn Josef, und er muß sich bei der Wahl dieses biblischen Namens wohl etwas gedacht und seinen Sohn entsprechend erzogen haben, denn Jupp war zwar ein guter, echter Jugendfreund, aber zugleich auch ein scheinheiliger Tugendfreund. Einer lüsternen Potiphar wäre er trotz zeitweiliger Anfeindungen fleischlicher Art bestimmt entwetzt.

Und wie sich das mit den auch damals mitunter recht frivolen und sinnesfrohen Texten der von mir angebrachten Schlager zusammenreimen sollte, wußten wohl nur der Gottseibeiuns und Jupp. Er übte die sündigen Tanzlieder heimlich, wenn er allein war.

Ich holte meine Geige wieder raus

Und so kam es, daß eines Abends meine Geige wieder aus ihrem goldgelben Samtfutteral geholt und zum erstenmal - Gott sei's gedankt - zu recht sinnlichen Klängen und Liedern eingesetzt wurde. Zum hellen Entzücken unserer Freunde, die nun das Klavier umstanden und die ebenso frechen wie eingängigen Lieder ungehemmt mitsangen. Von da an gab's kein Halten mehr.

Wir suchten und fanden schon bald ein gemütliches Clublokal, in dem wir jeden Samstag die neuen frechen Schlager und Rhythmen wie Viren in das noch nachkriegsstille Städtchen einschleppten.

Wir mußten rechtzeitig an Ersatz für unseren Pianisten denken

Jupp war bei unsern musikalischen Exzessen immer ein bißchen gehemmt. Das lag an seiner mustergültigen Erziehung. Doch außer ihm gab es in unserm Kreis noch einen Pianisten, sogar einen sehr guten und musikalisch sehr begabten. Er hieß Heinrich, besuchte eine Lehrerbildungsanstalt und war nebenbei Ornithologe, also Vogelkundler. Zu unserm Bedauern gab er sich mit seinen Vögeln mehr ab als mit uns.

Leider. Denn wir mußten immer fürchten, daß uns Jupp eines Tages entrissen, das heißt, daß ihm höheren Orts diese Musik untersagt werden konnte. Es galt also, rechtzeitig an Ersatz zu denken. Wir mußten uns den Heinrich anlachen und ihn wenigstens zeitweilig von seiner Vogelkunde zu uns herüberziehen.

Aber auch Heinrich war zu Höherem berufen

Wenn ich sagte, er sei ein guter Pianist gewesen, dann stimmt das nur halb: Er fühlte sich offenbar zu Höherem geboren und spielte deshalb oft zur Ehre Gottes die große, altehrwürdige Kirchenorgel - bei feierlichen Hochämtern. Und seine Präludien fischte er ausnahmslos aus dem Bach mit den Vornamen Johann Sebastian.

Doch mit welcher List oder welchem Köder sollten wir unsern Vogelheinrich an unsern Club binden? Ihn mit unsern billigen Gassenhauern zu gewinnen war hoffnungslos. Dazu war er zu ernst und solide.

Da fiel mir bei Tonger der Klavierauszug zu Kaimans Operette >Die Csardasfürstin< in die Hände. Ich hatte gar nicht gewußt, daß es solche Klavierauszüge gab, blätterte darin herum und war fasziniert. Das war ja die ganze Musik, von der Ouvertüre bis zum Schlußgesang. Musik, von der man damals nur in Cafes oder Musikpavillons etwas hörte.

Nachdenklich : Wie war es denn damals vor dem Krieg ?

Kann man es wagen, den Menschen unserer Zeit so etwas zu erzählen? Einer Zeit, in der es fast unmöglich ist, jener Berieselung zu entgehen, die uns schon in den Hotelhallen empfängt, in die Fahrstühle begleitet, in allen Zimmern beglückt und bis ins WC verfolgt - sollen Menschen unserer Zeit mir das glauben?

Wie war es denn damals vor dem Krieg, während des Krieges und nach dem Krieg?

Es war ganz anders!

Und das müssen Sie mir glauben: Wer ein Musikstück hören wollte und selber Klavier spielen konnte, kaufte sich die Klaviernoten, wie man einen Roman kauft, den man lesen möchte.

Andernfalls blieb nur die Möglichkeit, sich den musikalischen Genuß von einem Kaffeehaus-Stehgeiger zu erbitten. Da das nur selten zu dem gewünschten Erfolg führte, blieben derartige Spezialwünsche oft unausgesprochen. Man hörte Musik eben bei Promenadenkonzerten oder in den großen Konzertsälen.

Kalmans >Csardasfürstin< vom November 1915

Kalmans >Csardasfürstin< war Ende November 1915, also während des ersten Kriegsjahres, in Wien uraufgeführt worden und dann im Lauf der nächsten Jahre über die langsam immer weniger werdenden spielbereiten Operettenbühnen Europas gegangen. Wer die Operette sehen und hören wollte, ging ins Theater.

Den Klavierauszug sehen, ihn kaufen und auf der langen Heimfahrt von vorn bis hinten zu studieren war eins. Ich hörte lesend die Melodien und vergaß darüber nicht nur alles andere, beinahe sogar das rechtzeitige Aussteigen.

Mit dieser Musik müßte es mir gelingen, selbst Heinrich von seinem Vogelherd zu locken.

Locken und Ködern : Vielleicht können wir ja mal ab und zu zusammen musizieren

Ich brachte ihm den Klavierauszug noch am selben Abend und sagte: »Wenn dir die Musik gefällt, könnten wir vielleicht ab und zu zusammen musizieren.« Unsern Club ließ ich zunächst noch unerwähnt. Kein Wunder, daß er beim Anblick des fünfundsechzigseitigen Werkes große Augen machte.

»Du sollst ja fantastisch Geige spielen«, sagte er. Ich winkte ab: »Für den Hausgebrauch reicht's man grade, und mehr will ich ja auch nicht. Wir zwei würden uns bestimmt großartig ergänzen.« Dazu sagte er nichts; er war in seiner Bescheidenheit wohl anderer Meinung.

»Spiel dir das Opus mal durch - und dann reden wir weiter!« Was dann am nächsten Sonntag geschah, ist den biederen Königswinterern bis heute verborgen geblieben, denn man könnte fast sagen, es sei ein Sakrileg gewesen.

In der Kiche - fast ein Wunder

Kaum daß der greise Dechant Commes an diesem Tag die Schäfchen seiner Herde mit dem Sprechgesang entlassen hatte: »I-i-i-i-te, e-e-e-e- mis-sa est!«, auf gut deutsch: »Geht, ihr seid entlassen«, da rissen die Kirchendiener schon die breiten Portale auf, und im selben Augenblick brauste jubelnd die altehrwürdige Orgel aus dem großen Kirchenschiff hinaus auf die Hauptstraße der sonntäglich gestimmten Stadt.

Hein zog beherzt alle Register, von der Vox humana bis zu den sonst nur an Weihnachten eingesetzten Hirtenflöten, und spielte virtuos auf allen vier Manualen und dem Fußmanual, das die allertiefsten Bässe, das heißt die größten und dicksten Röhren, anblasen und zum Singen bringen sollte... Es tönte und dröhnte, wurlte und wuchtete aus hundert Pfeifen zum Lobe des Herrn aller Heerscharen. Und der Mann am Blasebalg, der durch Treten der beiden Pedale dafür zu sorgen hatte, daß Hein und seinen Pfeifen selbst beim gigantischsten Fortefortissimo niemals die Luft wegblieb, kämpfte trotz seines Herzinfarktes schweißtriefend gegen den Zusammenbruch des gigantischen Musikwerkes an.

Heinrich spielte und Jupp lauschte - merkwürdige Melodien

Jupp, der sich ebenfalls zur höheren Ehre Gottes als Organist betätigen durfte, horchte auf. Das war doch... Nein, das konnte nicht sein! Und doch und doch ... das war doch, obwohl langsam vorgetragen und mit hundert Bachschen Variationen berankt, das war...

Es durfte nicht wahr sein. Ganz entgegen seinem sonstigen Drang, aus der weihrauchgeschwängerten Kirchenluft ins Freie zu flüchten, blieb er knien und lauschte gebannt den Klängen, die da unverkennbar, wenn auch hinter noch so vielen Variationen und Kadenzen versteckt, eine Operettenmelodie aus Kaimans >Csardasfürstin< sangen. Und als könnte er es nicht fassen, summte er leise mit:
»Machen wir's den Schwalben nach, baun wir uns ein Nest...«

Hein spielte die Orgel wie in einem Rausch und so virtuos, daß selbst der selige Johann Sebastian begeistert applaudiert hätte... wenn solch brachiale Gefühlsausbrüche in den Gotteshäusern nicht von allen Gläubigen als Abkehr von Gott und Hinwendung zum allzu Irdischen empfunden worden wären.

Das grenzte fast an Gotteslästerung

»Bist du lieb und bist du brav, halt zu dir ich fest...«
Nein, das grenzte fast an Gotteslästerung, so gut es auch klang und so gut der Vogelhein das gottgeweihte Instrument auch hand- und fußhabte.
Wenn der Satansbraten da oben jetzt etwa als Rausschmeißer auch noch »Ganz ohne Weiber geht die Chose nicht« anstimmen sollte ...

Gottlob hatte sich das große Kirchenschiff bis auf zwei alte >Quisseln< bereits geleert, und Hein schloß mit einigen weniger originellen als traditionellen Wendungen im >strengen Satz< ...

Jupp ging langsam hinaus, während die Kirchendiener - weit weniger aufgerührt als er - hinter ihm die schweren Portale schlössen.

Musik ist wie eine gläserne Kugel

Draußen wartete er auf Hein. Er kam ein paar Minuten später. Anzunehmen, daß Jupp nun sein Orgelspiel erwähnt hätte - nichts davon. Und auch Hein sprach mit keiner Silbe über sein Wagnis, sofern es in seinen Augen überhaupt eines gewesen war. »Musik ist wie eine gläserne Kugel«, sagte er einmal. »Es kommt nur darauf an, was man in sie hineinsieht.«

Eine Operette hatte er bis dahin noch ebensowenig gesehen wie eine Oper. Was konnte eine Operette ihrem Namen nach wohl auch anderes sein als eine kleine Oper? Wurde und wird nicht auch Bizets >Carmen< von vielen Kritikern eher den Operetten als den Opern zugezählt?

In dieser Sache war er wie ein reiner Tor dicht am Abgrund eines stadtaufwühlenden Ärgernisses vorbeigeglitten. Erst als ich ihn ein halbes Jahr später zu einer Aufführung der >Csardasfürstin< mit nach Bonn nahm, ahnte er wohl etwas von dem, was damals wirklich passiert war.

Ihn näher an uns heranzuziehen gelang mir trotzdem nicht. Zwischen ihm und meinen Freunden lag eine Welt - er wollte Lehrer werden, und ich glaube, er ist ein guter Erzieher geworden.
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Neu : Der Vetter aus Dingsda

Eines Tages las ich während der Mittagspause in der Kölner Tageszeitung die Kritik über eine neue, völlig aus dem Rahmen fallende Operette, >Der Vetter aus Dingsda<, das Werk eines jungen Rheinländers aus Emmerich, Eduard Künneke, der an der Berliner Musikakademie in der Meisterklasse von Max Bruch Komposition studiert und mit seiner singspielartigen Musik einen sensationellen Erfolg erzielt hatte. Ohne Chor und ohne Ballett. Das hatte es noch nicht gegeben.

Nach der Arbeit rannte ich zu Tonger - und dort lag schon griffbereit der Klavierauszug. Ich blätterte bereits auf dem kurzen Weg zum Hauptbahnhof darin, rannte dabei beinahe ein paar Leute um und sank endlich - beglückt aufatmend - in die roten Polster des bereits dastehenden Bummelzuges.

Heute mußte der Zug gerast sein . . .

Ich glaube, er fuhr an diesem Tage im Schnellzugtempo und überrannte alle Zwischenstationen, denn als ich den Anfang des dritten Aktes gerade studieren wollte, war ich schon in Königswinter.

In heller Aufregung stürzte ich in mein Zimmer, griff mir meine Geige und spielte diese neuen Melodien ohne Pause von Anfang bis Ende.

Solche Stunden gehörten zu den schönsten meines Lebens. Hätte ich nicht doch Musiker werden sollen, statt Strippen zu ziehen und in dicke Kasernenmauern Löcher für elektrische Kabel zu bohren? Ich fieberte - doch ich wagte nicht, darüber nachzudenken.

Noch am selben Abend ging ich mit meinem Klavierauszug zu Hein. Er war von Künneke ebenso überrascht wie ich. Wir saßen bis spät in die Nacht darüber.

Cafe Corso - Hauptstraße Ecke Grabenstraße

Ja, und dann wurde an der Ecke Hauptstraße- Grabenstraße ein Konzertcafe mit einer kleinen Tanzfläche eröffnet. Es hieß Cafe Corso und bezeichnete sich als >Treffpunkt der eleganten Welt<. ... der eleganten Welt - was das wohl heißen sollte!

Dumm war diese Charakterisierung auf jeden Fall, denn wer möchte sich schon beim Betreten eines Cafes auf diese Weise charakterisiert sehen? Sie konnte Schüchterne nur abschrecken. Uns also nicht.

Es war ein hübsches, gemütliches Cafe, die Preise hielten sich im Rahmen - und die zwei jungen Musiker waren hervorragend!

So schmolzen alle Zuhörer dahin

Sie spielten die Tanzmusik der Zeit, alle modernen Rhythmen zwischen Jazz und Boston. Und dazwischen - ab und zu einen Reißer, bei dem sich der gutaussehende Geiger in die Herzen seiner Zuhörer stahl.

Kleine Bravourstücke wie die >Kavatine< von Raff, >Der Engel Lied< von Braga, >Mattinata< von Leoncavallo und vor allem >Con sordino< und >Bien chante<, die von Millionen Geigen in aller Welt geschluchzte Serenata von Toselli. Bei ihr schmolzen alle Zuhörer dahin. Einige Verwegene versuchten sogar dazu zu tanzen.

Rein technisch war der Geiger zwar untere Mittelklasse, aber er hatte etwas, was man auf keinem Konservatorium lernen kann: Unter seinen Händen beseelte sich das Instrument, es konnte singen und sprechen, so verschmolz er mit ihm.
Schmusgeiger nennen das die Berufsmusiker geringschätzig.

Ein Volontärsjahr geht zu Ende

Auch ein Volontärsjahr geht zu Ende; doch ich habe es nur selten als eine harte Notwendigkeit empfunden, denn je mehr ich lernte, um so mehr interessierte ich mich für alles, was mit Elektrizität zu tun hatte.

Herr Leser schrieb mir ein Zeugnis, wie es besser nicht hätte sein können. Er schrieb darin zum Schluß, daß ich nach Beendigung meines Studiums sofort als Leiter der Projektabteilung bei ihm arbeiten könnte, und Herr Tillmann lud mich an diesem Abend - auf Firmenkosten - zu einem Abschiedsessen ins Domhotel. Die ganze Firma benahm sich, als hätte sie mir zu danken - statt umgekehrt.

Auf gehts nach Berlin - zum Studieren

Inzwischen waren alle Formalitäten mit der Hochschule geklärt - noch zwei Wochen eine Art Urlaub. Papa kaufte mir in Bonn einen monströsen, einbruchssicheren Koffer. Ich lud meine Freunde zu einer Abschiedsfeier, dann Abschiedstränen zu Hause ... und mein Umweg in die Welt begann.

In die Welt... Ich wußte es, denn ich wußte, was ich wollte. Es war mir in den letzten Wochen und Monaten klargeworden: In Königswinter konnte ich nicht bleiben und nichts werden. Mein wahres, wenn auch noch fernes Reiseziel war Berlin.

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